Kolumnistin und Linguistin Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger

Kante B

Von Helen Christen

«Darf ich Si öppis frooge?» So wird in der Stadt Luzern – gerne an der Buskante B – eine Begegnung anmoderiert, die nach ihren eigenen Spielregeln abläuft. Kein Zweifel: Hier steht jemand, dessen Leben auf der B-Side der Wohlstandsgesellschaft stattfindet. Ungewaschene Kleidung, ungekämmtes Haar, ungepflegte Zähne (kein fake!) treffen dabei nicht selten auf Unverständnis, Unmut, Unerbittlichkeit – und als Abwehrzauber gegen die durchaus anständig formulierte Frage stellen viele nullkommaplötzlich ihren Blick auf starr und frieren ihre Gesichtszüge ein. Nur schon ein flüchtiger Blickkontakt nämlich setzt erfahrungsgemäss die (an dieser Stelle meist ins vertrauliche Du wechselnde) nächste Fragesequenz in Gang: «Heschmer echli Münz?» Was irgendeine verbale oder nonverbale Reaktion abverlangt.

Wer denn von jenen, die an der Kante B auf einen Bus in ein Luzerner A-Quartier warten, könnte nicht ein paar Münzen erübrigen? Klar löst der Ein- oder Zweifränkler kein Problem, und auch klar: alle Beteiligten wissen, dass der/die andere weiss, dass das Münz nicht zwingend für die Gassechuchi bestimmt ist, sondern allenfalls dem Erwerb von Substanzen dient, die ihren Weg nicht über den Magen-Darm-Trakt nehmen. Ein Spiel mit ziemlich offenen Karten also.

Wann aber mache ich mein Portemonnaie auf, wann nicht? An Tagen mit hohem Frustrationsaufkommen – Zugsausfall, Steuerrechnung, Muskelkater etc. – bleibt der Geldbeutel eigenartigerweise zu. Als ob mich meine belanglose Luxus-Übellaunigkeit mit den zu Recht Frustrierten verschwestern würde: Mir geht es ja auch schlecht... An Tagen aber, an denen ich mir etwas gönne (sprich: etwas kaufe, das ich entweder nicht brauche oder schon in anderer Farbe besitze), bin ich freigebig. Das schlechte Gewissen sorgt hier – leicht durchschaubar – für einen Pseudo-Altruismus, der nichts anderes als ein Ablass für meinen sträflichen Hedonismus ist.

Um die Spendabilität etwas von meiner Tagesform zu entkoppeln, gäbe es zwar «Gutscheine für Randständige», die ich mir in die Tasche stecken und im Fall der Fälle bequem zücken könnte. Der hier zutage tretende erzieherisch-maternalistische Gestus – er kommt ebenso zum Tragen, wenn ich das Sandwich gleich selber kaufe und grosszügig überreiche – will mir jedoch nicht so ganz behagen. Ist es nicht anmassend, mit ein paar Franken gleich noch die «richtige» Lebensführung einzufordern? Und dies, ohne zu wissen, aus welchen Gründen jemand seinen Stolz überwinden, seine Selbstachtung hintanstellen muss, um mit kläglichen Almosen irgendwie durch einen Tag zu kommen, dessen Abgründe sich jenseits meiner heilen Welt auftun. Also doch ein wenig Münz, wofür auch immer?

Gewaschene Kleidung, gekämmtes Haar, gepflegte Zähne (fake?) – so hat sich kürzlich meinem Mann und mir (nicht an der Kante B) ein Mann mittleren Alters mit einer ziemlich ausgefeilten Geschichte präsentiert und uns nicht etwa um ein wenig Münz, sondern grad um die vollen Auslagen für eine Bahnfahrt nach Zürich (kein Halbtax) gebeten. Der versierte Auftritt mit dem hochheiligen Versprechen, das Geld sofort auf unser Konto zu überweisen (Nummer wurde beflissen notiert), war Oscar-preiswürdig – und wir letztlich die Geprellten. Nicht so sehr die Vorspiegelung falscher Tatsachen (weitere penible Details seien hier ausgespart) und nicht so sehr der verbutterte Mikrokredit haben uns dabei geschmerzt, sondern vielmehr, dass uns der Dreistling ganz offensichtlich als tumbe Toren eingestuft hat, die man mühelos über den Tisch ziehen kann. Und er sogar noch Recht bekommen sollte...

Ganz anders die Randständigen an der Kante B: Sie richten ihren fein eingestellten Kompass auf Leute, in deren Gesichtern sie Grosszügigkeit, Offenheit, Empathie lesen und damit Erfolg für ihr monetär überschaubares Anliegen versprechen. So kann die Ansprache «Darf ich Si öppis frooge?» nicht bloss als lästige Anrempelei, sondern nachgerade als Kompliment aufgefasst werden, zu den Netten zu gehören. Fünfliber!

16. August 2023 – helen.christen@luzern60plus.ch


Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.