Paul Huber. Bild: Joseph Schmidiger

Kannitverstan

Von Paul Huber

Ich gehöre zur Generation, der das Lesen noch mit Hilfe eines Lesebuches beigebracht wurde. Lesebücher enthielten Geschichten, Gedichte und Fabeln, Generationen von kurzzeitigen Vorbesitzer:innen, die sich durch die Texte gequält hatten, hinterliessen darin Eselsohren, Schmutz- und Tränenflecken.

In unserem Lesebuch der 2. Primarklasse fand sich eine Kurzgeschichte des alemannischen Dichters und Pfarrers Johann Peter Hebel. Dem achtjährigen Päuli gefiel sie sehr. Sie ging so: Ein deutscher Handwerksbursche kommt auf seiner Wanderschaft nach Amsterdam. Überwältigt von den grossen schönen Häusern und den exotischen Handelswaren, die aus vor Anker liegenden Schiffen geschleppt werden, will er von Vorübergehenden wissen, wem dies alles gehöre. «Kannitverstan» lautet immer wieder die einsilbige Antwort. Was dazu führt, dass des armen Burschen Bewunderung für den Reichtum von Herrn Kannitverstan immer grösser wird. Bis er auf einen grossartigen Trauerzug stösst und erfährt, dass da Herr Kannitverstan zu Grabe getragen werde. Das lehrte den armen Handwerksburschen, so stehts im Text, «… wenn es ihm wieder einmal schwer fiel, dass so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein grosses Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab.»

Hebel hatte die Erzählung 1808 für einen Hauskalender (Brattig) geschrieben. Dem Publikum angepasst, einfach, unterhaltsam und erbauend, «… wie ein Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit gelangte». Die Moral: Geld macht nicht glücklich, sei zufrieden mit deinem Los. Genügsamkeit als Tugend. Spott als Trost.

Paul ist die unkritisch kindliche Freude an dieser Geschichte längst vergangen. Obszöner Reichtum ist zum Problem geworden. Denn 200 Jahre nach Johann Peter Hebel besitzt 1 Prozent der Weltbevölkerung 45 Prozent aller Vermögen. 50 Prozent der Weltbevölkerung balgt sich um 1 Prozent allen Reichtums. Dazwischen – der schwindende Mittelstand. Milliardäre kaufen mit ihrem Reichtum Medien zusammen, füttern die «armen Handwerksburschen» der Neuzeit mit Fake News und hetzen sie gegen jene auf, die noch weniger haben. Oligarchen und Kleptokraten und deren gekaufte und liebedienernde Helfershelfer putschen von Mar-a-Lago und anderen Geldtrutzburgen aus auf kaltem Weg gegen die Demokratie.

Kannitverstan!

Ein Grund zu verzweifeln? Wie nicht wenige Bürger:innen in depressive Stimmung verfallen? Nein, nehmen wir das Nichtverstehen als Motivation zum Handeln. Noch haben wir die politischen Instrumente dafür. Kämpfen wir im Alltag für eine gerechtere Verteilung des Reichtums, wie beispielsweise bei der 13. AHV-Rente, beim Lohnschutz in den EU-Verträgen, bei fairen Erbschaftssteuern für riesige Vermögen oder beim Budget für die Ärmsten auf der Welt. Und verhindern so, dass zunehmend mehr Menschen den Glauben an die Demokratie verlieren und Autokraten auf den Leim kriechen.

PS: Wem das Kämpfen nicht so liegt, suche - ganz im Sinne Hebels - zeitgemässen Trost bei Polo Hofer: «S letschte Hemmli hed keni Seck.»

15. März 2025 – paul.huber@luzern60plus.ch
 

Zur Person
Paul Huber, geboren 1947, war vor seiner Wahl in den Regierungsrat des Kantons Luzern als Primarlehrer, Lehrplanentwickler und Gewerkschaftssekretär im Zentralsekretariat des VPOD tätig. Nach 16 Jahren Tätigkeit im Justiz-, Gemeinde- und Kulturdepartement (1987 bis 2003) hatte er verschiedene staatliche, privatwirtschaftliche und gemeinnützige Führungsfunktionen inne. Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens stehen für den promovierten Historiker noch immer im Zentrum seines Interesses.