„Wenn ein Mensch Sterbehilfe beansprucht, müssen wir dies annehmen“
Der Luzerner Stadtrat will, dass in den Betagtenzentren und Pflegewohnungen der Stadt Luzern der Wunsch nach Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid respektiert wird. Er stützt damit die Selbstbestimmung des Menschen. Wie werten Sie diese Haltung?
Roland Neyerlin: Seit der Zeit der Aufklärung ist Selbstbestimmung immer höher bewertet worden. Heute ist sie auch in den meisten Berufen ein bestimmendes Thema. Bei der Interpretation des Begriffs Sterbehilfe besteht jedoch Gesprächsbedarf. Der Mensch kann nicht immer souverän über sich selbst entscheiden. Es gibt immer ein Mehr oder Weniger. Die Frage nach dem freien Willen kommt auch in der aktuellen Debatte von Hirnphysiologen und Neurobiologen zum Ausdruck. Sterbehilfe aber muss rückgekoppelt sein an die Selbstbestimmung des Einzelnen.
Aerzte und Pflegepersonal haben Mühe, diese Selbstbestimmung zu anerkennen. Was kann diese Gewissenskonflikte abbauen helfen?
Vor allem müsste extrem viel Biografiearbeit geleistet werden, damit das Personal weiss, wer da liegt. Der heutige Anspruch auf Wissenschaft und Professionalisierung in der Arbeit bringt das Gespräch leider zum Verschwinden. In unserer pluralistischen Gesellschaft müssen wir jedoch damit leben lernen, dass Menschen oder Institutionen andere Schlüsse ziehen als ich selbst.
Wäre es sinnvoll, in den Pflegezentren entsprechende Gesprächsrunden zu schaffen, die sich mit der Thematik der Sterbehilfe auseinandersetzen?
Sicher. Das Thema verlangt nach einer dauernden Auseinandersetzung.
Trotz der neuen Regelung besteht jetzt eine Diskrepanz zu den Akutspitälern, wo Sterbehilfe als Widerspruch zum Kernauftrag des Heilens gesehen wird. Müsste Sterbehilfe nicht auch in den Spitälern zum Thema werden?
In den Spitälern ist die Haltung anders. Bei uns wird nicht gestorben, wir heilen, heisst es da. Doch die Frage der Sterbehilfe wird auch in Spitälern immer mehr zum Thema, weil das Sterben selbst heute breit debattiert wird.
Wie stehen Sie persönlich zur Sterbehilfe, zum Wunsch eines schwer kranken Menschen, nicht mehr so leben zu wollen?
Das Leben ist nicht immer das höchste Gut. Es kann, muss aber nicht. Wenn ein Mensch aus seinem Kontext zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Schluss kommt, dass Leben lohne sich nicht, ist dies zu respektieren. Immer vorausgesetzt, der betreffende Mensch war selbstbestimmt.
René Regenass
(Der Philosoph Roland Neyerlin (59) hat sich in den letzten Jahren intensiv mit den Fragen um Alter, Lebensende und Sterben auseinandergesetzt.)
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