„Immer weniger reden untereinander“
Pflegen, betreuen und Formulare ausfüllen dominieren den Alltag einer Pflegefachfrau im Betagtenzentrum Eichhof.
Von René Regenass
Auf der Abteilung 3 West im Betagtenzentrum Eichhof stehen 17 Betten, 7 davon für die Palliativ-PatientInnen, 10 für Langzeitpatienten. Für Pflege und Betreuung dieser Menschen gibt es 10 diplomierte Pflegefachleute, 4 Pflegemitarbeiterinnen mit SRK-Kurs, 3 Lernende und 2 Praktikantinnen. An einem Tag im März verbringe ich mehrere Stunden im Umfeld der Pflegefachfrau und Tagesverantwortlichen Heidi Halter (58) (Bild oben).
08.10 Uhr: Wir gehen zu einem gestern angekommenen, 78jährigen Mann aus einem Land in einem anderen Kulturkreis. Seit vier Jahren in der Schweiz. Blasenkrebs, im Spital operiert, Katheder, Schmerzen beim Urinieren, beide Füsse mit wundoffenen Zehen. Versteht wenig Deutsch. Englisch hilft. Jetzt waschen und Pflege. Marianne rasiert mit Crème und Klinge. Der Mann möchte wärmeres Wasser beim Waschen. Er hat kalt. Waschen im Intimbereich. Der Patient muss dazu hin und her gedreht werden. Heidi holt ihm Morphintropfen, um die Schmerzen zu lindern. Heidi muss die Pflege kurz unterbrechen, um bei einer andern Patientin die Infusionsleitung umzustecken, weil die Lernende, die bei ihr ist, diese Handlung noch nicht allein durchführen darf. Die Pflege des Krebspatienten braucht eine gute halbe Stunde, zu zweit. „Das ist eine komfortable Situation “, sagt Heidi Halter.
Kulturunterschied: Der Mann lässt sich nur ungern waschen und pflegen von fremden Frauen. Er ist etwas misstrauisch, dass hier Frauen führen und befehlen. Beim Duschen darf nur seine eigene Frau dabei sein. Das wird in die Pflegedokumentation eingetragen. Die Biografieblätter geben Auskunft über die Lebenssituation und den Lebensweg des Heimbewohners, über spezielle Ereignisse, über sein Erleben des Zeitgeschehens. Auf dem Infoblatt wird auch gefragt, ob eine Patientenverfügung bestehe.
Heidi Halter trifft heute auf ihrer Abteilung drei neue Gesichter unter den Bewohnerinnen. „Das ist auf der Palliativabteilung häufig so nach freien Tagen.“
Stationszimmer: Eine Patientin der Palliativabteilung möchte eine Ernährungsberaterin. Sie verlangt weit mehr, als in ihrem palliativen Zustand aus der Sicht der Betreuenden noch Sinn macht.
09.20 Uhr: Wir gehen in die Kaffeepause in die Cafeteria, eine halbe Stunde steht dafür zur Verfügung.
Rituale zum Abschied
Heidi Halter führt mich in ein Zimmer, in dem ein Toter liegt. Er ist gestern gestorben. Im Eichhof dürfen die verstorbenen Menschen 24 Stunden in ihrem Zimmer liegen bleiben, bis der Bestatter kommt. Am Mittag wird der Tote abgeholt. Heidi Halter begleitet den Sarg bis zum Pflegeheimausgang. Ein kleines Ritual von Abschied. „Wir möchten gerne mehr tun, aber es ist nicht möglich.“ Für die auf der Palliativabteilung Verstorbenen wird auf einem Tischchen im Korridor immer ein Kärtchen aufgestellt, mit Name, Geburts- und Todestag. Es gibt immer wieder Angehörige anderer Patienten, die sich daran stören.
Eine Mitarbeiterin kommt ins Stationszimmer. Sie fragt, ob noch genügend medizinisches Material vorhanden sei. Es ist Freitag. Am Samstag gibt es keinen Materialnachschub, Verbände, Decken, Einlagen, usw. Ob der Infusomat jetzt ersetzt sei, will sie noch wissen. Einmal pro Woche kann von den Pflegestationen Material bestellt werden.
Dementenpflege ist eine Herausforderung
Ich sitze im Korridor. Ein Mann läuft umher, schon den ganzen Vormittag. Die Eichhof-Architektur eignet sich für solche Rundgänge. Er ist dement, erfahre ich nachher. Ich kenne das Gesicht, kann die Person jedoch nicht „heim tun“. Da sitzt er mir gegenüber auf einen Stuhl und spricht mich an. Wir kennen uns irgendwoher, sage ich. Er sieht das, glaube ich, auch so, kann es aber nicht formulieren. Da steht eine Pflegerin daneben und hört uns, etwas erstaunt zu. Doch der Mann protestiert: „Wir reden zusammen, gehen Sie weg.“ Und wiederholt es, als die Pflegerin nicht gleich verschwindet.
Wer demente Menschen pflegt und betreut, muss einiges akzeptieren können. Eine Frau wehrte sich heute Vormittag mit Schimpfen und Schlägen gegen das Duschen. Doch mindestens einmal pro Woche muss es sein. Eine halbe Stunde später sitzt sie völlig zufrieden und lächelnd im Korridor.
Heidi Halter erzählt: „Eine etwa siebzigjährige Patientin mit offenen Krebswunden im Gesicht war bei uns. Nach einem Monat konnte sie sterben. Das war gut so. Der Fall ging mir nahe.“
Der wichtige Mittagsrapport
Mittags um 13:00 Uhr ist Rapport im Stationszimmer. Dann sind alle Diensttuenden von diesem Tag da, Frühdienst, Tagesdienst, Spätdienst. Die Nachtwache fehlt, doch sie wird am Abend bei Dienstantritt informiert. Die Namen der Patienten, Patientinnen auf der Abteilung 3 West werden angesprochen. – Beim Kenianer sollten die wunden Füsse mit Polsterwatte eingebunden werden. Wird auf Patientenblatt eingetragen. – Angehörige beschwerten sich, weil eine Beiständin von der KESB eine Stunde bei einem Patienten weilte. Doch die Präsenz war notwendig, um das auffällige Verhalten des Patienten klären zu können. – Ein dementer Mann geht ab und zu in die Stadt spazieren, in den Hausschuhen. Seine Ausflüge sind abgesegnet von Heimleitung und Angehörigen. – Eine Patientin muss Pants bekommen, weil die Einlagen nicht mehr ausreichen, um die Nässe aufzufangen. – Bei einem Bett muss die Matratze ausgewechselt werden. Wer macht es heute Nachmittag?
Der Rapport zieht sich hin. Am Schluss muss Heidi Halter noch das Tagebuch ausfüllen, ein weiteres neues Formular. Das Ganze diene der Prozessoptimierung, höre ich.
Dazwischen: Ich spreche die Kommunikation im Team an. Heidi Halter hat Bedenken: „Morgenrapport und Mittagsrapport sind notwendig. Es ist wichtig, dass wir nicht nur schriftlich kommunizieren.“ Das Bestreben gehe jedoch in die entgegengesetzte Richtung – immer weniger reden untereinander! Der Morgenrapport finde nicht mehr in allen Heimen statt. Man lese die Dokumentation und meine, das reiche.
14.30 Uhr. Und jetzt, was bleibt für die Tagesverantwortliche heute noch zu leisten? Heidi Halter hat um sieben Uhr angefangen und arbeitet bis 16.00 Uhr. Zuerst wird sie dem Kenianer die Füsse neu verbinden. Vielleicht kommt noch der Abteilungsarzt vorbei zur medizinischen Beurteilung. Dann muss das Formular zur Qualitätssicherung RAI ausgefüllt werden. Dann gilt es, die Aufgaben für den nächsten Tag zu verteilen, je nach den vorhandenen Kompetenzen. Die Mitarbeitenden werden je nach Diplomniveau und Ausbildungsstand bei den Palliativpatienten oder Langzeitbewohnerinnen eingesetzt.
„Etwas Humor ist elementar für unsere Arbeit“
Im Gespräch mit der Pflegefachfrau Heidi Halter.
Was steht zuvorderst, wenn ich Sie nach dem Positiven im Arbeitsalltag frage, und auch nach Mängeln oder Lücken?
Heidi Halter: Auch nach Jahren im Beruf mache ich diese Arbeit immer noch gerne. Eher mühsam finde ich das Schriftliche, die Formulare nehmen sehr viel Raum in Anspruch. Und das Administrative nimmt laufend zu, obwohl wir hören, die Prozesse sollen optimiert werden. Das hört man ja auch von andern Arbeitsplätzen.
Weiss man auf den Chefetagen von diesen administrativen Belastungen und oft Leerläufen?
Ja sicher. Es gibt ein Formular – und dann muss Heidi Halter laut lachen – auf dem wir solche Sachen melden können. Es ist ein leidiges Thema. Auch das Pflegeeinstufungssystem, das RAI, nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Früher war der Fragebogen einfach zum Ausfüllen. Heute haben wir Beobachtungsphasen über 14 Tage. Dazu kommt, dass jede Person im Detail anders beurteilt. Das ist normal und nicht zu umgehen.
Spüren Sie schon etwas vom neuen Arbeitgeber, von der Gemeinnützigen AG Viva?
Wir an der Basis spüren bis jetzt nichts. Im obersten Kader werden Umstellungen und Mehrarbeit nicht zu umgehen sein. Eine Neuerung habe ich mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Ab dem 55. Altersjahr müssen wir keinen Nachtdienst mehr leisten. Das schätze ich sehr. Im Nachtdienst kommt man mit dem Alter an Grenzen.
Man hört viele gute Stimmen zur Palliative-Abteilung im Eichhof. Sie tragen persönlich dazu bei.
Als ich hier angefangen habe, hätte ich die Palliative-Abteilung am liebsten aus dem Eichhof herausgelöst und in ein anderes, kleines Haus gezügelt. Das würde die Arbeit in vielerlei Hinsicht erleichtern. Inzwischen habe ich die Infrastruktur schätzen gelernt, über die wir hier im Pflegeheim verfügen können. Der Eichhof ist ein sehr grosses Haus, und wir sind eine Art Insel hier drin.
Was ist denn anders bei euch?
Wir haben eine andere Teamkultur. Wir arbeiten eng zusammen, haben einen offenen, konstanten Austausch im Gespräch. Und die Personalfluktuation ist kleiner als in den andern Abteilungen. Zudem gehört eine gute Dosis Humor in unsern Arbeitsalltag. Das ist ganz elementar für unsere Arbeit mit schwerkranken, sterbenden Menschen. Das spürt jede Bewohnerin, jeder Patient, auch die Angehörigen.
Können die Mitarbeiterinnen eigene Ideen einbringen?
Ja, absolut. Jede hat ihren Platz. Es werden alle angehört. Gut, ich habe eine etwas laute Stimme. Mich muss man hören. (Und sie lacht wieder…)
Und wenn ich die Frage für das ganze Betagtenzentrum stelle?
Jede Abteilung hat ihre eigene Kultur wie sie mit Vorschlägen der Mitarbeitenden umgeht.
Ich stelle fest und sie haben es gesagt: Neben den Palliativpatienten ist die Mehrheit der Langzeitbewohner im dementen Zustand. Das macht den Alltag anspruchsvoll. Wie gehen Sie um damit?
Ich habe kein Rezept. Das Empfinden und Verhalten ist situativ. Es ist wichtig, sich nicht angegriffen zu fühlen. Man muss sich selbst zurücknehmen und fragen, was das Gegenüber mir sagen will. Oder was beschäftigt ihn oder sie? Es geht nicht mehr über Worte, sondern über Emotionen. Je mehr wir reden, desto diffuser sind die Reaktionen. Wir müssen zuhören, auch wenn wir nicht direkt verstehen. Und es kann sein, dass wir wenig später wissen, um was es gegangen ist. Zudem: demente Menschen kannst du mit Humor oft wunderschön abholen. .
Wie viele Langzeitpatienten im Zentrum Eichhof sind nicht dement?
Auf unserer Abteilung haben wir 17 Betten, 7 sind Palliativpatientinnen, die übrigen 10 sind dement. Im ganzen Pflegeheim wird es nur wenige geben, die noch klar orientiert sind. Zudem sind Anzeichen von Demenz meistens Gründe für eine Heimplatzierung, weil zu Hause die Sicherheit nicht mehr gewährleistet ist.
Interview René Regenass
27. März 2015