Der Grenzgänger
„Das Zufussgehen ist ein menschliches Mass.
Es tut gut. Man lebt im eigenen Rhythmus. Es ist einfach.
Man beginnt zu gehen. Der Weg ist das Ziel.“
Georg Hug in „Grenzwanderung“, 2012
Der Stadtluzerner Georg Hug wohnt seit über dreissig Jahren in der Region Sursee. Beim Eintritt in sein Wohnatelier nimmt mich das Bild, das auf der Staffelei steht, sofort gefangen: Kloster Gerlisberg mit Dietschiberg! Derselbe Blick, den ich fast täglich von unserem Balkon aus ins Auge fasse – über die Stadt hinweg. Und tatsächlich, der Maler stand beim Gigeliwald, als er die Landschaft skizzierte. Es ist nicht nur die vertraute Ansicht, die fasziniert, es sind auch die Farben. Etwas grell und trotzdem sehr erdig.
Es gibt nicht manchen, der so viel Boden unter die Füsse nahm wie Georg Hug. Zweimal hat er die Schweiz durchwandert, als Vierzigjähriger begann er Marathons zu laufen, spulte Hunderte von Trainingskilometern ab. Hug war auf unzähligen Bergen („Das grösste Glück!“) und auf vielen Hügeln. „Erst in der Bewegung ist mir wohl“, sagt er. Vor zwei Jahren hat er - zwischen Juli und September 2011 - in 17 Etappen die Grenze des Kantons Luzern erwandert, zum Teil in acht- bis zehnstündigen Tagestouren. Da war er fast siebzig Jahre alt. In diesem Frühjahr umrundete er in sechs Etappen die Stadt Luzern, mit Digitalkamera und Skizzenblock. Georg Hug ist ein Grenzgänger.
„Ich liebe die Grautöne“
Er ist in Luzern, im Brambergquartier, aufgewachsen, die Grosseltern wohnten in der Villa „Florina“, unterhalb der Rippertschwand, an der Stadtgrenze zu Meggen. Sein Vater Paul senior gründete die Grossbäckerei Hug, die heute von seinem Neffen Paul Philipp geführt wird. Während 30 Jahren praktizierte Hug als Facharzt Innere Medizin und Rheumatologie in Sursee. Seit 2007 ist er pensioniert, die Arztpraxis hat er aufgegeben. Hug, Vater von vier erwachsenen Kindern, wohnt jetzt allein in seinem Wohnatelier, hinter dem Stadtcafé in der Surseer Altstadt.
Kurt Heimann, sein freundschaftlicher Nachbar, Begleiter und Verleger, hat ihm dies ermöglicht. Und er hat ihn ermutigt, sein kreatives Schaffen in mehreren Ausstellungen öffentlich zu machen. Auch die zwei aussergewöhnlichen Wanderbücher, vom Surseer Grafiker Hanspeter Bisig einladend typografisch gestaltet, wurden auf Initiative von Heimann in dessen edition stadtcafé publiziert. Nach der „Grenzwanderung“, einer Umrundung des Kantons Luzern in siebzehn Etappen, folgte in diesem Herbst die Liebeserklärung an die Stadt Luzern: „Luzern – eine Entdeckungsreise“ in sechs Etappen. Die schmale Broschüre ist kein Touristenführer, sondern ein unaufdringlicher Wegbegleiter für neugierige Luzernerinnen und Luzerner, die ihre Stadt auf etwas anderen Pfaden kennenlernen möchten.
Die Stadtwanderung beginnt im Industriegebiet von Littau und führt uns in der ersten Tagesetappe über den Seetalplatz und den Sedel an den Rotsee. Es folgen die Etappen vom Rotsee über den Dietschiberg nach Würzenbach. Dann nach Seeburg und Rippertschwand, ohne das Haus „Florina“, wo er oft in den Ferien war, zu übergehen. Schliesslich in drei weiteren Etappen vom Matthof über den Obergütsch auf den Sonnenberg und zurück an die Littauer Emme und den Littauerberg. Hug sieht und fotografiert das Unspektakuläre, notiert lakonisch und beiläufig seine Beobachtungen. Zum Beispiel am Rotsee: Ausblicke in neblig dunstiger Unschärfe. Diese Unschärfe ist wie ein Schlüsselwort zu einem Grenzgang. Ich liebe die Grautöne. Und sein Schlusssatz nach der sechsten Etappe: Ciao Littau. Es war ein guter Tag mit
dir.
Unermüdlich auf Pilgerschaft
Georg Hug ist ein aufmerksamer Gastgeber. Obschon es ihm zuweilen Mühe bereitet, sich fort zu bewegen, will er uns zuerst das Atelier zeigen, wo zahlreiche Arbeiten sein unermüdliches Schaffen bezeugen. Überall Skizzen, Bilder, Bücher; Hug ist von einer unglaublichen Wissbegierde. Seine Gedanken hat er lebenslang in unzähligen Tagebüchern zu Papier gebracht. Früher schrieb er jeden Tag mehrere Briefe, von Hand wohlverstanden. Doch das geht nicht mehr. Hug ist an Parkinson erkrankt, er könnte seine eigene Schrift nicht mehr lesen. „Ich war immer auf der Suche“, sagt er. Unermüdlich, wie auf einer Pilgerschaft, mit der Leidensbereitschaft des Marathonläufers. „Es ist schwierig, mit sich zufrieden zu sein“, sagt er einmal während des Gesprächs. Stets auf der Suche nach der menschlichen Dimension, der Spiritualität, des Nicht-Fassbaren und des Nonverbalen. Da hilft ihm die Malerei, und sie fordert ihn auch. „Ich habe meine eigenen Farben bis heute nicht gefunden.“
Die Diagnose Parkinson traf ihn vor zehn Jahren. Das Gehen fällt ihm zunehmend schwer, der Alltag wird beschwerlicher, seine Artikulation ist während des Gesprächs manchmal undeutlich. Kürzlich, im Regionalzug von Luzern nach Sursee, konnte er nicht rechtzeitig aussteigen, weil er keinen Fuss vor den anderen stellen konnte – erst in Zofingen gelang es ihm, den Zug zu verlassen und nach Sursee zurückzufahren. „Ich habe die Krankheit akzeptiert“, sagt der Arzt Georg Hug. Die Krankheit sei wie ein Stachel, der ihm viel abverlange. „Seit ich unter dem Damoklesschwert der Invalidität stehe, lebe ich intensiver.“ Die Malerei helfe ihm, die Gefühle zu verarbeiten. „Mit dem Malen kann ich mir eine innere Ordnung schaffen.“ Und er lernt, die Welt auch im Kleinen zu sehen. Zum Beispiel auf der Gartenterrasse vor seinem Atelier, wenn er die Ameisen beobachtet. Weitere Ausstellungen, neue Bücher? Hug wehrt ab. „Ich mache keine Pläne, die über die nächsten drei Tage hinausgehen.“
Beat Bühlmann – 13. Dezember 2013
Georg Hug: Luzern – eine Entdeckungsreise. Edition stadtcafé, 2013. Mit einem Vorwort von alt Stadtpräsident Urs W. Studer. 100 Seiten broschiert, mit Fotos und Illustrationen des Autors. Fr. 19.50
Georg Hug: Grenzwanderung. In siebzehn Etappen um den Kanton Luzern. Edition stadtcafé, 2012. 144 Seiten, broschiert, mit Fotos und Illustrationen des Autors. Fr. 22.-