Im Untergrund die Lebensmitte gefunden
Im letzten Oktober erhielt Urs Häner von der Stadt Luzern die Ehrennadel überreicht. „Urs Häner setzt sich seit Jahrzehnten für seinen Lebensraum ein, mit sehr viel Ausdauer und Zuverlässigkeit“, sagte Stadtrat Martin Merki in der Feierstunde. Urs Häner engagiert sich seit 30 Jahren im Vorstand des Sentitreff und hat die inzwischen gut besuchten UntergRundgänge kreiert.
Von René Regenass (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)
Das Aktuelle zuerst: Ein Berufsleben lang hat er sich engagiert und eingesetzt für die Arbeiterschaft, für die einfachen Leute, für das Quartierleben an der Baselstrasse. Und am Ende muss er als Präsident der Ringier-Personalkommission in Adligenswil erleben, wie blanke Kapitalinteressen über die Weiterexistenz eines der grössten Druckereibetriebe der Schweiz entscheiden. Ende 2018 wird Ringier die Druckaufträge an Tamedia übergeben. Etwa 150 Frauen und Männer verlieren damit ihre Arbeit.
Jetzt sitzt er vor mir: Urs Häner (62), Theologe, Druckereiarbeiter, Gewerkschafter, Sentitreff-Mitbegründer, Geschichtenerzähler, Träger der Luzerner Ehrennadel, ab November 2018 frühpensioniert. „Ich freue mich, eine Persönlichkeit vorzustellen, die sich seit Jahrzehnten für ihren Lebensraum einsetzt – für Verbesserungen im Kleinen und im Grossen – mit sehr viel Ausdauer und Zuverlässigkeit: Es ist Urs Häner. Seit 30 Jahren engagiert er sich im Vorstand des Sentitreff, seit 17 Jahren ist er Co-Präsident. Er ist am Quartierentwicklungsprojekt BaBeL beteiligt. Und seit mehr als 20 Jahren führt er Menschen durch sein Quartier, führt sie an besondere Orte und erzählt Geschichten, die sich im Quartier zugetragen haben.“ Das sind Worte aus der Laudatio von Stadtrat Martin Merki bei der Verleihung der Ehrennadel an Urs Häner im letzten Oktober, zitiert von der Internetplattform www.lu-wahlen.ch. „Was Martin Merki dort sagte, hat mich sehr berührt“, sagt Urs Häner heute. „Es freute mich, dass meine Arbeit im Dreieck Sentitreff, BaBeL und UntergRundgänge von der Stadt wahrgenommen worden ist.“
Gegen die Priesterlaufbahn entschieden
Vor 33 Jahren hat das alles begonnen. Noch in Tübingen nahm Urs Häner Kontakte zu Arbeiterpriestern auf. Dieses Umfeld reizte den jungen Theologen. Schon bald entschied er sich gegen eine eigentliche Priesterlaufbahn. „Wenn schon Hans Küng keinen Platz mehr hat in der Kirche, kann ich mich doch von dieser Kirche nicht anstellen lassen. Das war die negative Motivation“, sagt Häner heute. „Die positive war die Suche nach der Alltagsnähe mit einfachen Arbeitern und Arbeiterinnen.“ Als Häner im Sommer 1985 nach Luzern kam, ging er in alle Fabriken, in die Viscose, zu Von Moos, Schindler, usw. Doch niemand wollte einen Arbeiterpriester im Betrieb. Als eine Kollegin erfuhr, dass er Arbeit suche, riet sie ihm, bei C.J.Bucher in Adligenswil zu fragen. Im August fing er dort an, in der Ausrüsterei der Druckerei. Und im Widder entdeckte er eine Anzeige, dass jemand einen Untermieter suche. Das Zimmer befand sich an der Dammstrasse. So kam Urs Häner im November 1985 in das Quartier, das für ihn Lebensmittelpunkt und eigentliches Wirkungsfeld geworden ist. „Das war genau das Richtige für mich“, sagt er rückblickend. „Ein Arbeiterquartier mit interkultureller Prägung“.
Ein Diaspora-Katholik
Eine Einschätzung: Arbeitertheologe, Engagement im Quartier, Personalkommission, praktische Integrationsarbeit – hat Urs Häner eine soziale Ader mit spiritueller Prägung? „Ich bin ein klassischer Diaspora-Katholik, aufgewachsen in Bern, in einem Pfarreimilieu, wo soziales Engagement dazu gehört hat. Der Jugendseelsorger bei den Pfadfindern war mir ein Vorbild. Während des Studiums kam die befreiungstheologische Ausweitung dazu. Es gab damals Begriffe und Orte, die mich bewegten: Medellin, Puebla, Sandinisten, Ernesto Cardenal. Das alles ist Hintergrund für meine Spiritualität. Ich wollte dies auch im Alltag leben, Werktagschrist sein, im Gegensatz zu den Kirchgängern am Sonntag.“ Häner war dabei, als in Luzern die „Theologische Bewegung“ gegründet wurde. Solidarität am Arbeitsplatz war ihm ein Anliegen. Das Arbeitsgesetz wurde wichtig, mit dem Sonntag als Ruhetag. Er suchte die Vernetzung mit Gleichgesinnten. Davon profitiere er auch heute, bei den Auseinandersetzungen in Adligenswil. „Auf sich allein gestellt, hält man solche Belastungen nicht lange aus.“
Die Interessen der Aktionäre wogen mehr
Man las und hörte es in den Medien, ohne Hintergründe. Urs Häner erzählt: „Am 8. November im letzten Jahr wurden die Mitarbeitenden von Ringier Print zusammengerufen. Zwei Tage vorher war bekannt geworden, dass Adligenswil den Druckauftrag für die Luzerner Zeitung an Tamedia in Zürich verliere. Wir nahmen alle an, das jetzt über die Folgen informiert werde, Umstrukturierungen, vielleicht eine Handvoll Entlassungen. Doch es kam anders. Verwaltungsrat Alexander Theobald sagte im ersten Satz: <Wir schliessen den Betrieb auf Ende 2018, weil die Rentabilität fehlt.> Wir sassen da wie gelähmt, einer weinte, andere dachten sofort an das Wie Weiter, fragten schon nach dem Zeugnis.“
Dann begann das sogenannte Konsultationsverfahren, in dem die Belegschaft die Möglichkeit erhält, Gegenvorschläge zu formulieren. Personalkommission (PKO) und Gewerkschaften verlangten Zahlen und Informationen. Etwas wurde bekannt gegeben, anderes verschwiegen. Schliesslich trat die ArbeitnehmerInnen-Vertretung mit Forderungen vor den Verwaltungsrat. Urs Häner: „Wir wollten, dass Ringier die eigenen Druckaufträge nicht abgebe und präsentierten Vorschläge für die Weiterführung des Betriebs. Am 10. Januar wurden unsere Ideen vom Tisch gewischt. Das Konsultationsverfahren wurde mit einem negativen Bescheid abgeschlossen. In der Folge hatte die PKO einen Sozialplan für 151 Mitarbeitende zu verhandeln.
Auch die Ringier-Familie liess die Belegschaft hängen
Jetzt (Mitte März) steht die Personalkommission in der neunten Woche in Verhandlungen. Nach zahlreichen Eingaben an die Ringier-Verantwortlichen schrieb die Belegschaft sogar einen Brief mit 115 Unterschriften an den Patron, an Michael Ringier und seine Schwestern. „Wir erinnerten darin an die Rolle ihres Vaters als Patron und Unternehmer mit sozialer Verantwortung. Doch die Familie ging nicht auf unsere Anliegen ein.“ Urs Häners Anstellung wurde auf den 30. November gekündigt. Dabei wurde Rücksicht genommen auf die Senkung des Umwandlungssatzes in der 2. Säule auf den 31. Dezember 2018. Mit Blick auf sein biografisches Lebensgefühl sei dies zu früh, sagt Häner. Ob er weitere Lohnarbeit suche, frage ich. „Damit konnte ich mich noch nicht beschäftigen. Ich widmete mich in den letzten Wochen nur der Personalkommission und der Schaffung von guten Rahmenbedingungen für die Ringier-Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Im Hintergrund denke ich, dass ich etwas mehr UntergRundgänge übernehmen werde. Ich weiss auch, dass mein Lebensentscheid für Teilzeitarbeit mich in der Lohnpyramide nach unten drückt.“ Was Urs Häner in der Quartierarbeit und im Sentitreff leistet, ist fast ausschliesslich unbezahlte Freiwilligenarbeit. Es sind rund 300 Stunden pro Jahr. Für die Equipe, welche seit 22 Jahren die Rundgänge im Untergrund abdeckt, gibt es eine Entschädigung. Die Gruppe ist dem «Luzernernetz Arbeit und Bildung für alle“ (LABA) angeschlossen.
Der Geschichtenerzähler
Eher neu ist die Präsenz von Urs Häner im Historischen Museum – Museumsdirektor Christoph Lichtin hat mehrmals „gebohrt“. Nun präsentiert Urs Häner dort in sieben Cabinets Geschichten aus dem Quartier, mit einem beachtenswerten Video vom UnterGrundgang unter dem Titel „Grabe, wo du stehst“. Diese Ausstellung dauert noch bis zum 9. September. Er erzählt zum Beispiel vom Kino Madeleine, mit den wechselnden Schwerpunkten im Programm: Zuerst Schmuddelfilme, dann Verbrechen, Western und schliesslich die Sexfilme. Oder vom Gasthaus Kreuzstutz, eine Drehscheibe der Luzerner Arbeiterbewegung. „Da kamen die Schindler-Arbeiter zu ihrem Znüni“, erzählt Urs Häner im Video. Oder wir erfahren, dass es heute an der Basel- /Bernstrasse 14 Lebensmittelläden mit ausländischen Spezialitäten gibt. „Als Geschichtensammler und –vermittler prägt er das Bild des Quartiers mit… Die Recherchen sind Sedimente von Begebenheiten aus dem Quartier, Fundstücke gelebten Lebens“, heisst es im Flyer des Historischen Museums. In einem der Cabinets steht die Frage: Wer macht Geschichte? Und daneben: Macht ist auch mitzubestimmen, wie die Geschichte einst wirklich erzählt wird. Der Satz stammt aus einem Brief einer Frau an Honecker, den einstigen DDR-Staats- und Parteichef. – Urs Häner engagiert sich, Geschichte zu gewichten und zu erzählen.
Etwas stolz auf die Sentipost
„Es ist mir ein Anliegen, dass wir das beobachten und sehen, was in der nächsten Umgebung geschieht“, sagt Urs Häner. Welche Aktivitäten im Sentitreff tragen die Handschrift von Häner? „Das ist, über die ganzen 30 Jahre betrachtet, sicher die Sentipost, die Zeitschrift, die vierteljährlich erscheint. Da habe ich viel geschrieben, (Gutes geschrieben, müsste man ergänzen). Das hat mir Freude bereitet. Lange Zeit habe ich auch Ausstellungen in den Sentitreff gebracht, von Leuten aus dem Quartier.“ Auch bei der immer gut besuchten Weihnachtsfeier hat Häner all die Jahre mitgewirkt.
Einen sanfteren Übergang vorgestellt
Wie geht der 62jährige Urs Häner dem Alter entgegen? Er verliert den Arbeitsplatz, ist als Co-Präsident des Sentitreff zurückgetreten. Da entsteht neue Zeit, etwas Leere vielleicht? „Ich habe mir einen sanfteren Übergang vorgestellt, sicher. Schon vor Jahren dachte ich, die Lohnarbeit zwischen 60 und 65 schrittweise zurückzufahren, damit es keinen Bruch gibt. Und jetzt habe ich genau diesen Bruch, unfreiwillig. Damit geht auch die betriebliche Tagesstruktur verloren, die ich sicher irgendwie vermissen werde. “Rein biografisch gesehen, wäre auch der Rücktritt im Sentitreff nicht zwingend gewesen», sagt Häner. Doch angesichts des Generationenwechsels und der Organisationsentwicklung, die man aufgegleist habe, sei der Zeitpunkt richtig. „Ich sehe neue Freiräume auf mich zukommen. Was in der Vergangenheit oft liegen geblieben ist, erhält jetzt mehr Raum. Ich habe viele Ausstellungen verpasst, die ich gerne besucht hätte. Das wird jetzt anders werden, aber nicht zu schnell. Ein Kollege sagte, er habe sich vorgenommen, im ersten Jahr nach der Pensionierung nichts Neues anzunehmen. Das ist vermutlich keine schlechte Idee.“
11. April 2018- rene.regenass@luzern60plus.ch
Zur Person
Urs Häner (62) verbrachte Schulzeit und Jugendjahre in Bern. Nach der Matura stieg er in Luzern in das Theologiestudium ein (1975 bis 1981), zwei Jahre davon weilte er in Tübingen. In der Folge wirkte er in Berlin als Werkstudent und Arbeitertheologe. 1985 nahm er die Arbeit bei C.J. Bucher in der Druckerei Adligenswil auf, als Produktionshelfer in der Weiterverarbeitung nach dem Druck (Teilzeitarbeit, anfänglich 70, später etwa 55 Prozent). Er ist Mitglied der Personalkommission, die letzten 5 Jahre als deren Präsident. Wegen der Betriebsschliessung durch Ringier verliert Urs Häner Ende November 2018 seinen Arbeitsplatz.