„Ich will vorwärts gehen und etwas bewegen“
Marie-Stephane Hofmann wirkte zwanzig Jahre in der Mission in Madagaskar und lernte Lebensweise und Brauchtum der Einheimischen kennen. „Ich habe vieles als gesünder erlebt als unsere Regeln hier.“
Von René Regenass (Text und Bild)
Ihre Rede ist verhalten, zurückhaltend trifft es vielleicht besser. Doch sie kann es auch anders: überzeugend, den Standpunkt erklären, deutlich werden, wenn es der Inhalt erfordert. Das wird auch notwendig gewesen sein, in ihren Einsätzen als Ordensfrau, Krankenschwester und Verantwortliche der Region der Ordensgemeinschaft weit weg in Madagaskar.
Marie Stephan Hofmann ist 77. Sie ist in Olten geboren. Ihre Kindheit hat sie in Göschenen verbracht, die Schuljahre in Gebenstorf im Aargau. Ich lernte sie kennen in der Vereinigung zur Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden. Und ich bewunderte ihre meist entschiedene Haltung, wenn es darum ging, wie wir in unsern Einsätzen einem Menschen begegnen können, wann Hilfe und Empathie angesagt und wann Distanz gefordert sei.
Nicht alle gingen in die Mission
Sie erzählt: „Ich bin Mitglied der Missionsschwestern der Heiligen Familie. Gemeinsam mit den Brüdern der Heiligen Familie (früher bekannt in Werthenstein) wirken wir in Drittweltländern.“ Wie wurde der missionsarische Auftrag angegangen? Marie Stephan Hofmann: „Im Vordergrund standen die Hilfe an Kranken, die Schule, Mädcheninternate und die Förderung der Frauen. Aber nicht alle gingen in die Dritte Welt. Es brauchte auch Schwestern, welche hier blieben, um Geld für den Orden zu beschaffen. Zum Beispiel im Unterricht an Schulen, in Alters und Pflegeheimen. Oder in Deutschland, wo der Orden um 1950 ein Kur- und Krankenhaus übernahm. Dort war ich während anderthalb Jahren im Einsatz. Das war eine erfahrungsreiche Zeit, wo ich die Folgen des Krieges schmerzhaft nah spürte. Wir begleiteten Witwen während einer Kur und pflegten Männer auf der Krankenstation, die aus der Gefangenschaft zurückgekehrt waren.“
Der Orden ist in Holland vor dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden (1937). Marie Stephan Hofmann ist dort in den Orden eingetreten; in Baarlo bei Venlo stand das Mutterhaus in einem alten, als Denkmal geschützten Schloss aus dem 14. Jahrhundert, das 1996 an eine Hotel- und Künstlerkette verkauft worden ist. Seit 1966 besteht eine Niederlassung in der Schweiz. 1969 kehrte Marie-Stephan aus Deutschland in die Schweiz zurück. In der Klinik St. Anna machte sie die Krankenschwester-Ausbildung. Anschliessend folgte die Ausbildung in Tropenmedizin in Belgien, weil ihr Einsatz in der Dritten Welt bevorstand.
Wohin zog es sie für diesen Einsatz? „Ich schwärmte damals für Indonesien. Die Ordensleitung jedoch fragte mich, ob ich nach Madagaskar gehen würde. In einer Poliklinik im Busch brauchte es eine Krankenschwester. Ich war einverstanden. Ich habe diesen Schritt nie bereut. In Indonesien, ein Land mit vielen Statussymbolen, wäre es für meinen Geist zu eng geworden.“
Sich nach den Himmelsrichtungen orientieren
Der Einsatz in Madagaskar war eine spannende Herausforderung. „Am Vormittag behandelten wir die Patienten und Patientinnen ambulant. Sie kamen zu Fuss oder mit Ochsenkarren aus dem Busch. Oft erzählten sie auch von einem Schwerkranken oder von schwangeren Frauen, die nicht mehr transportiert werden konnten. Ich ging sehr oft auf den Weg zu diesen Kranken. Der Weg dorthin, den ich mit meinem alten Renault 4 fahren musste, richtete sich nach den Himmelsrichtungen. Eine Strecke kannte ich schon, dann musste ich bei einem bestimmten Baum nach Norden fahren, später nach Westen, usw. Wenn ich heute zurückdenke, war dies damals die schönste Zeit in meinem Leben. Es waren vor allem die Kontakte mit den Einheimischen in ihrem Milieu, die ich schätzte. Für diese Menschen waren wir ganz nahe dem lieben Gott, wohltuend, heilend. In ihren Augen hatten wir Macht wie ihre Medizinmänner. Unsere Medikamente oder Massnahmen könnten zu Leben oder Tod führen. Ich versuchte immer Abstand zu nehmen von diesem Bild, dieser Position des Vergöttlichen.“
Das Brauchtum als gesund erlebt
Auftrag der Schwestergemeinschaft war es auch, neue Mitglieder aufzunehmen und junge Madagassinnen in das Ordensleben einzuführen. Auch diese Aufgabe kam auf Marie Stephan Hofmann zu. „Ich musste mich dazu neu ausrichten, ausbilden auch. Und ich wollte wissen, mit wem und was ich es zu tun habe. Ich wollte eine Vertrauensbasis aufbauen. So erfuhr ich auch von ihrer Denkweise und ihrem Leben. Ein Beispiel: Die Frau verantwortet ihre Schwangerschaft allein. Sie entscheidet über eine Abtreibung, wenn sie notwendig ist. Sie kennen Pflanzen, die sie als Mittel zur Abtreibung einnehmen, wenn kurz nach der Geburt bereits wieder eine Schwangerschaft da ist. Das ist für sie eine legitime Handlung. Und das ist heute noch so.“ Marie Stephan betont, dass auch Menschen, die katholisch oder reformiert leben – es sind über fünfzig Prozent - diese alten Bräuche pflegen und ihre Rechte wahrnehmen. „Ich habe eigentlich vieles aus diesem Brauchtum als gesünder erlebt, als unsere katholischen Regeln. Unser Eheversprechen, zusammen zu sein, „bis der Tod euch scheidet“, ging für diese Menschen nicht auf. Das ist für sie angsterweckend. Wenn eine Frau keinen Sinn mehr erkennt in einer Lebensgemeinschaft, kann sie der Mann mit einem Geschenk in ihr Elternhaus zurückbringen. Die Verbindung wird dann aufgelöst.“
Hat sich Marie Stephan Hofmann akzeptiert gefühlt bei der Arbeit in einer fremden Kultur? „Ja, im Dorf wo wir lebten, und in der Gemeinschaft sicher. Ich erlebte Beziehungen, durch die viel Gutes aufgebaut werden konnte, doch auch Gegner, die ich als Herausforderung sah.“ Sie erlebte in Madagaskar die Studentenproteste und die anschliessende Machtergreifung durch das Militär und die Diktatur (1972 und 1992). Damals wurde auf subtile Weise auch versucht, den Europäern ihren Aufenthalt zu verleiden. „Ich kannte Schweizer, die im Hochland Weinberge aufgebaut hatten. Als ihr Aufenthalt wegen diesen oder jenen neuen Vorschriften schwierig wurde, verliessen sie das Land. Am meisten litt wohl das Schulwesen und somit die Zukunft des Landes unter der Diktatur. Geschichte, Geographie wie Französisch wurden aus den Fächern der Volkschulen gestrichen. Privatschulen führten diese Fächer weiter. Heute versucht eine neue Regierung das ins Elend verkommene Land wieder aufzubauen.“
Die Ökonomie aufgebaut und geleitet
Marie Stephan Hofmann war insgesamt während zwanzig Jahren in Madagaskar. Hin und wieder kam sie zur Erholung und für Kursbesuche auf einen Urlaub in die Schweiz zurück. „Es war mir wichtig, mich selber weiter zu bilden in der Erwachsenenbildung wie auch für die Führung der Provinz des Ordens in Madagaskar. Wir haben die Ökonomie mit Buchführung stets ausgebaut und dafür gesorgt, dass wir durch Eigenleistungen mehr Mittel zur Verfügung hatten.“
Nach zwanzig Jahren kehrte Marie-Stephan Hofmann 1992 zurück in die Schweiz. „Ich habe immer um die Weisheit gebetet, spüren zu dürfen, wann es Zeit sei, wieder nach Hause zurückzukehren. Ich verstehe unser Leben als Dienst an Gott und der Gesellschaft. Ich habe alte Missionare erlebt, die in Drittweltländern «ihr Reich» aufgebaut haben und sich bedienen lassen. Das hätte ich nie tun können.“
Hier lebte sie zuerst im Schwesternhaus beim Staffelnhof in Reussbühl. Nach zwei Jahren richtete der Orden in Kriens ein offenes Haus ein, wo Marie-Stephan Hofmann hinzog und in einer Gruppe von vier Frauen mitwirkte. „Ich machte Gesprächsbegleitungen, begann mit energetischen Behandlungen und bot öffentliche Kurse in Spiritualität an.“
Noch rund hundert Schwestern im Orden
Der Orden zählt gesamthaft noch rund hundert Schwestern. „Aber sie sterben weg hier in Europa “, sagt Marie-Stephan Hofmann. In Madagaskar ist Wachstum, da wirken inzwischen rund siebzig Schwestern. Hier in der Schweiz sind es noch 16 Ordensfrauen, so zwischen 67 und 94 Jahren alt. In Kriens ist die Generalleitung des Ordens. Die Schwestern finden je nach Alter und Gesundheit in Pflegeheimen oder im Betreuten Wohnen ein neues Zuhause. Marie-Stephan Hofmann wohnt alleine in einer Wohnung.
Der Orden hat kein zentrales Werk mehr in der Schweiz. Die Schwestern sind alle pensioniert. Sie wirkten als Krankenschwestern in Reussbühl und Umgebung, als Lehrkräfte an verschiedenen Schulen. Eine Besonderheit: Nach dem Konzil wurde die Ordenstracht bei den Missionsschwestern der Heiligen Familie aufgegeben. Der Anstoss kam aus Holland, wo die Schwestern zivil gekleidet sein wollten, zum Schutz der ledigen Mütter, die sie betreuten. Seit den 80er Jahren sind sie auch hier in der Schweiz in ziviler Kleidung.
Sie liebt den Blues
Und heute, wie sieht der Alltag aus? „Ich nehme jeden Tag für sich, schaue, was auf mich zukommt.“ Marie-Stephan Hofmann bietet Lebensberatung, Heilbehandlungen an und sucht in der Meditation die Verbundenheit mit Gott. Bei „Zeitgut“, der Organisation für Nachbarschaftshilfe, begleitet sie eine Frau. Politisch denkt und handelt sie mit, wenn es um Gerechtigkeit und Frieden geht. In der Freizeit geht sie sehr gerne in die Natur. Und sie liebt die Musik, vor allem auch den Blues. „Ich schaue, wo es günstige Karten für Konzerte gibt. Oder manchmal gibt es auch ein kleines Geschenk.“ Jedenfalls freut sie sich auf das Blueskonzert im KKL, wo sie einen Platz reserviert hat.
Wenn Marie-Stephan Hofmann zurückschaut auf ihr Leben, ihren Dienst am Schwachen, war das gut so? „Ich bin zufrieden. Ich fühle mich solidarisch mit ihnen und bin mir auch der eigenen Schwachheit bewusst. Zugleich spüre ich immer etwas Pioniergeist in mir, will vorwärts gehen und etwas in Bewegung bringen. Das war und ist für andere nicht immer einfach. In Madagaskar habe ich mit den Mitschwestern vieles in die Wege geleitet, das heute noch gilt oder angewendet wird. Das freut mich sehr.“
Bittere Erfahrungen
Es gibt aber auch die andere Seite. Marie Stephan erzählt: „In der Gesellschaft in Madagaskar gibt es Regeln wie die Blutrache. Manchmal wird andern Menschen Leid zugeführt aus Neid oder Eifersucht. Medizinalpflanzen werden hochdosiert als Gift eingesetzt. Erst am Ende meiner Einsatzzeit musste ich feststellen, dass solches auch intern in unserer Gemeinschaft vorgekommen ist. Das war für mich eine sehr bittere Erfahrung. Madagassische Mitarbeiterinnen sagten es so: Wir sind Meister im Dominospiel, wenn jemand vorankommt, wird ein Stein quergelegt.“ Auch das sei Afrika, Dritte Welt, sagt Marie-Stephan. Das sei mit ein Grund, dass man dort nicht vorankomme. „Da kann man Geld investieren, ohne sichtbaren Erfolg.“
Marie-Stephan Hofmann hat das Ordensleben gewählt. Was hat sie bewegt dazu, was getragen? „Ich habe als junge Frau die Liebe von Jesus Christus erfahren, die er allen schenkt, ob sie erwidert wird oder nicht. Ich habe schon früh gespürt, dass ich nicht heiraten werde. Ich wollte Krankenschwester werden und mit meinem Wissen in die Dritte Welt gehen. Die spirituellen Erfahrungen haben mich getragen. Intensive Begegnungen und Freundschaften sind mir wertvoll.“ Marie-Stephan Hofmann lebt heute in Luzern. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie aus der AHV und bescheidenen festen Beiträgen des Ordens, die allen Mitgliedern zustehen.
27. Juni 2019