Es war einmal die Bahnhofstrasse … Bild: Archiv Imkontext

HRM lebt – und das Theater auch!

«Der Flaneur» umkreist in der Stadt das Quartier mit dem Platz des jetzigen und vielleicht auch neuen Theaterhauses (28. Ausgabe).Von Karl Bühlmann

Noch ist die Bahnhofstrasse eine Strasse, aber nicht mehr lange. Die Umbauarbeiten haben begonnen, erste Schuttmulden sind mit Asphaltbrocken gefüllt, Rohre und Röhren zum Verlegen liegen bereit. Aus der Strasse wird ein elf Meter breiter Quai, ohne Trottoir, mit zwei Baumreihen, einer Velospur. Das Bauamt hat Infosäulen aufgestellt: In der Begegnungszone gilt Tempo 20, Fussgänger:innen haben Vortritt. Velos fahren rücksichtsvoll. On verra! Anlieferungsverkehr ist nur noch in beschränktem Rahmen zugelassen.

Dreizehn Jahre nach Annahme der «Initiative für eine attraktive Bahnhofstrasse» soll die als Flaniermeile gepriesene Strecke zwischen Hauptpost und Luzerner Theater fertig gestellt sein. «Take a walk on the bright side» lautete der Titel des Projekts, das seinerzeit den Wettbewerb für die Umgestaltung – mit 57 teilnehmenden Teams – gewonnen hatte. Wird die neue Promenade an der Reuss zur Homebase des Flaneurs? Schön wärs ja, zwei Umstände verdüstern die Aussicht. Sooooo «bright» ist die Besonnung der Spazierstrecke und der vorgesehenen Buvetten, mobilen Glacé-Ständen, Boulevardgastronomieplätzen auf dieser Seeseite die Hälfte des Jahres wohl nicht.

Bahnhofstrasse-Architektur heute: Kandidatin für den «Goldenen Kaktus» im Fassaden-Lotto. Bild: Imkontext

Wenig einladend für die, welche nicht aufs Smartphone starren, sondern die Umgebung wahrnehmen, sind die blassen Fassaden der Bahnhofstrasse ab Hauptpost, die Nummern 3 bis 7. Wo bis 1948 das prachtvolle, kuppelbewehrte Hotel du Lac aus der Belle Epoque das Stadtbild prägte, stehen grau-uniforme Bürogebäude (Telekommunikation, Bank, Versicherung).

Ihre Fassaden, durch monotone Fensterreihen gerastert, sind langweilig – helvetische und verbesserte Version, deshalb teurer, von DDR-Plattenbauten. Am Ende der Häuserzeile, vor der Theaterstrasse, ist ein Relikt des einstigen, pariserisch anmutenden Seidenhofs am Leben geblieben.

Der gute Hirte mit drei Schäfchen verteidigt seinen Standort bis und mit Neubau des Luzerner Theaters. Bild: Imkontext

Am Theaterplatz stehen Baumaschinen, erst für den Tiefbau, nicht für den Theater-Hochbau. Rolf Brems «Hirte und Schafe» in Bronze sind durch rotweisse Abschrankungen vor dem Abtransport gesichert. Der Flaneur gesteht, dass er sich ein neues Luzerner Theater wünscht. Das alte klassizistische «Truckli», das auf 1838 zurückgeht, 1924 teilweise abgebrannt, seither immer wieder etwas um- und angebaut, ist marode und ein Flickwerk.

Das Programm, die künstlerischen Angebote sind hochklassig, die Arbeitsbedingungen von Ensemble und dem weiteren Personal eine Zumutung. Wäre die Gewerkschaft UNIA auch für kreativ Berufstätige zuständig, hätte längst eine Mahnwache vor dem Haus gestanden und den Besucherinnen und Besuchern deutlich gemacht, dass die räumlichen Arbeitsbedingungen in diesem Haus gegen das Arbeitsgesetz verstossen. Das Luzerner Theater, älteste Kulturinstitution der Stadt, braucht eine neue Heimstätte und einen neuen Schub – so wie vor einiger Zeit das KKL und das Kunstmuseum oder der FCL mit seinem Stadion.

Neue Hüllen erzeugen Aufmerksamkeit, ermöglichen breitere Angebote, ziehen mehr Besucherinnen und Besucher an, das KKL hats bewiesen. Verbesserte Arbeitsbedingungen führen zu rationelleren Abläufen, Einsparungen und zu mehr Spitzenleistungen. Die Kulturstadt Luzern ist auch eine Theaterstadt – aber das Theater muss Annehmlichkeiten bieten: moderne Infrastruktur, bequeme Sitze, zugänglich für Behinderte, klassische und experimentelle Aufführungen, grosse und kleine offene Räume zum Verweilen.

Nein, das neue Theater ist nicht am falschen Platz, es gehört dorthin. Die Strasse vor dem Theater verschwindet ohnehin, die Parzelle, auf der momentan die Box steht, ist zu kostbar, um wieder zu einem Hundeversäuberungsplatz degradiert zu werden. Nein, die Architektur des neuen Theaters stört den Stadtfrieden und das Stadtbild nicht, sondern markiert, dass wir nicht mehr im 19., sondern im 21. Jahrhundert leben. Jede Zeit setzt ihre Zeichen und hinterlässt Zeugnisse der Gegenwart, des aktuellen Denkens und Produzierens. Die Architektur des jetzigen Projekts ist ein Vielfaches spannender als die Bauten mit den tristen Fassaden an der Bahnhofstrasse. Sie setzt endlich ein Gegengewicht zur benachbarten Jesuitenkirche, zu der noch immer ein respektvoller Abstand besteht.

Apropos Jesuitenkirche: Als diese zwischen 1666 und 1677 gebaut wurde, zählte das Fischerstädtchen Luzern etwa 3500 Einwohner und Einwohnerinnen. Die Kirche mit knapp 1000 Plätzen war überdimensioniert im Stadtbild – aber zum Glück gab es noch keine Stadtbau-, keine Stadtbild-, keine Kulturgüterschutzkommission, weder Heimatschutz noch Leserbriefspalten und Online-Schimpfportale.

Was wird eigentlich, wenn die Zahl der Kirchenaustritte weiter steigt, in hundert Jahren aus der Jesuitenkirche? Umbau in ein spirituelles Wellness-Hotel oder in ein von der Heilsarmee geführtes Massenlager für Kurzzeittouristen? Die Tauglichkeit dazu hat das imposante barocke Kirchenschiff schon mal bewiesen: 1845, nach dem gescheiterten zweiten Freischarenzug gegen die Luzerner Regierung, waren über tausend Aufrührer während Wochen im mit Stroh ausgelegten Kirchenraum gefangen gesetzt. Die sanitarische Einrichtung bestand aus hölzernen Bottichen, die für alles Mögliche herhalten mussten. Die siegreiche Obrigkeit kümmerte sich um Dekrete und nicht um Sekrete. Einmal täglich durften die Häftlinge auf der mit Brettern vernagelten Kapellbrücke kurz frische Luft schnappen.

Noch-Immer-Büro HRM, Theaterdezernent A. D., Hirschengraben 7, offeriert Helikopterflüge über das Neue-Theater-Luzern-Projekt. Bild: Imkontext

Zurück in die Gegenwart, in den Hirschengraben. Beim Eingang ins eingerüstete Haus Nr. 7 gerät der Flaneur ins Grübeln. Noch immer gibt es die Reklametafel mit der Anzeige «Advokaturbureau Dr. iur. Margrit Meyer – Dr. iur Hans Rudolf Meyer – Rechtsanwälte und Notare». Darüber ein Hinweis auf Helikopter-Rundflüge. Frau Meyer ist 96-jährig 2018 gestorben, Herr Meyer, in der lokalen Geschichte als HRM, Stadtpräsident, Nationalrat und Brigadier verewigt, bereits 2005. Ein Dutzend Jahre lang hatte er, das war im letzten Jahrhundert, auch das Amt des «Dezernenten», des städtischen Beauftragten für das Theater, inne.

Meyers spiritistische Noch-Immer-Präsenz nah am Vielleicht-Theater-Bauplatz könnte für die kommenden Volksabstimmungen über Projektierungskredit und Realisierungskredit hilfreich sein. Denn Zack-Zack-Meyer selig war mit besonderer Stimm- und Überzeugungskraft gesegnet, entschied und handelte, oft auch solistisch, was damals noch möglich war. Manchmal wünschte man sich im heutigen Politikbetrieb wieder solche «Täter». 

Luzerner Kantonalbank mit weltstädtischer Grandezza, Pilatusstrasse 12, verabschiedet und rückgebaut 1968. Bild: Emil Goetz, zirka 1924, Stadtarchiv Luzern, F2 PA 001/0534

Zwei weitere Objekte in nächster Umgebung, vor allem deren Architektur und Aussenwirkung, sind in Zusammenhang mit der Theater-Diskussion von Interesse: grosse Bauten im gleichen Geviert zwischen Reuss und Pilatusstrasse, die stilistisch aus der Reihe tanzen und jeweils nach ihrer Geburtsstunde etwelche Gemüter in Erregung versetzten. Solches geschah 1973, als der Neubau der Luzerner Kantonalbank mit seiner pseudovenezianischen Fassade und endlosen Reihen von rotgoldig schimmernden Wabenfenstern eröffnet wurde. Fünf Jahre zuvor hatte die Bank den Vorgänger, einen neubarocken imposanten Prachtbau von 1909, abreissen lassen. Der kantonale Denkmalpfleger kritisierte, dass mit dem Abriss die Struktur des Quartiers schwer beschädigt worden sei.

Die Kritik am «Riesenlego-Gebäude» aus vorfabrizierten Kunststeinelementen mit falschem Marmorglanz ist längst verstummt. Die Luzernerinnen und Luzerner haben sich an den Fremdling gewöhnt: «Die Gewohnheit ist unsere Natur» (Blaise Pascal). Nur erstmalige Stadtbesucher mögen sich heute noch wundern, weshalb sich die Kopie eines Serails aus tausendundeiner Nacht an den Viktoriaplatz in Luzern verirrt hat.

Seit 1973: Luzerner Kantonalbank mit pseudovenezianischer Lego-Fassade, daneben das momentan verhüllte, einstige «Banknoten-Krematorium». Bild: Imkontext

Wie erst haben sich Menschen in der Stadt einst über die Schweizerische Nationalbank an der Pilatusstrasse 10 echauffiert! Exakt vor hundert Jahren und einem Monat ist das vom (ausgerechnet!) Zürcher Stadtbaumeister Hermann Herter konzipierte Gebäude eröffnet worden. Der Bau im neoklassizistischen, zum Funktionalismus tendierenden Stil ist kein Bankinstitut mehr, sondern beherbergt seit 22 Jahren das Museum Sammlung Rosengart. Der fünfgeschossige, repräsentative Baukörper ist kubisch und symmetrisch gegliedert, unterschiedlich ornamentierte Friese akzentuieren seine Fassade.

Momentan ist das Gebäude eingerüstet und verpackt wie ein Kunstobjekt von Christo und Jeanne Claude. Die 300 Fenster am Haus werden ausgetauscht; auf sanft-deutliche Empfehlung der Denkmalpflege kommen nur zweifachverglaste Fenster wie anno 1924 (!) in Frage. 

Die Nörgler von 1924 – Nörglerinnen kamen damals nicht zu Wort – fanden den neuen Nationalbankbau viel zu modernistisch, unpassend an diesem Ort mit den Nachbargebäuden wie Hotel Gotthard, Hauptpost und Kantonalbank. Manche Luzerner hätten sich ein rustikales Gebäude mit Sattel- oder Walmdach gewünscht, mit Risaliten, Blendwerk, üppigen Ornamenten. Im Juni 1924 war im «Tagblatt» zu lesen: Täglich sieht man Leute den Neubau bestaunen und kopfschüttelnd sich entfernen. Der Bau wird als architektonischer Fremdkörper im Stadtbild empfunden. Haben wir inhaltlich gleiche Bedenken in den letzten Monaten nicht auch in kritischen Leserbriefen über Standort und Architektur des neuen Theaterprojekts lesen können? 

Volkes Mund kannte 1924 keine Grenzen und lästerte über den «fabrikähnlichen» Bau. Es fielen Bezeichnungen wie «Spinnerei» oder «Zentralgefängnis», letztere wegen der Vergitterung der Fenster im Erdgeschoss. Weitere Stimmen aus dem Publikum, im liberalen Blatt mit dem Vermerk «Ohne Verantwortlichkeit der Redaktion» neutralisiert, nannten das Haus ein «Banknoten-Krematorium» oder die «Fünfliber-Zitadelle».

So präsentiert sich das enthüllte Museum Rosengart demnächst wieder an der Pilatusstrasse 10. Bild: zvg, Archiv MSR

Ebenso heftig fiel die Kritik an der von Bildhauer Hermann Haller geschaffenen Brunnenfigur auf der Brunnenanlage an der Seidenhofstrasse aus, einem Auftragswerk der Nationalbank zur Eröffnung der Zweigstelle in Luzern. Im liberalen «Tagblatt» äusserte sich der Anonymus «Satyr» so: Das stattliche, aufrechtstehende Weib in gut Lebensgrösse, im Tropenkostüm, scheint bei näherer Betrachtung, leider direkt aus dem Spital zu kommen, denn seine Schenkel sind mit typischen Narben bedeckt, oder soll das nur zur Abschreckung dienen vor den scheusslichen Folgen einer fürchterlichen Krankheit? Gleichentags doppelte die katholisch-konservative Zeitung «Vaterland» über die zweifache Sündhaftigkeit der nackten weiblichen Bronzefigur nach: Die Aufstellung dieser Nudität bedeutet für die Stadt Luzern einen Schritt weiter in der Richtung einer rücksichtslosen Kunstausübung, die rücksichtslos ist jedenfalls für die Ansprüche der Jugenderziehung, die man sich in Luzern bisher noch einigermassen zu wahren vermocht hat. 

Weil Architekt und Bauleiter aus Zürich geholt wurden, lokale Planungsbüros nur zweitrangig berücksichtigt wurden und der Bau aus einheimischer Sicht schon deshalb ein «Fremdkörper» war, fällte die Redaktion ein gleiches Urteil über den Seidenhofbrunnen: Als Fremdkörper wird die Figur auch deshalb gelten, weil diese Idee von auswärts bezogen werden musste.

Hoffentlich spielen kleinlich-lokalpatriotische Argumente bei den kommenden Theater-Abstimmungen keine Rolle. Andernfalls wäre das KKL, auch so ein Fremdkörper und von einem fremden Architekten entworfen, vor einem gelegentlichen Bannspruch und Abriss nicht sicher.

19. Dezember 2024 – karl.buehlmann@luzern60plus.ch


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Karl Bühlmann (1948) ist «Der Flaneur». Aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung und engagiert bei Kulturstiftungen. Buchautor und Redaktor der «Luzerner Neuesten Nachrichten» (LNN), von 1989 bis 1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI. (Bild: Joseph Schmidger)