Michiel Aaldijk: «In der Stadt Luzern hören 10'000 Personen nicht so gut.»
«Die meisten Hörgeräte liegen in der Schublade»
Schwerhörigkeit ist auch eine Alterserscheinung. Viele Frauen und Männer wollen sie nicht wahrhaben und gehen sieben Jahre zu spät zur Abklärung. Das führe oft zu einem sozialen Rückzug, sagt Michiel Aaldijk, Geschäftsleiter von Pro Audito Luzern.Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)
Schlecht hören, ist das eine Alterserscheinung?
Michiel Aaldijk: Ja, das ist eine Alterserscheinung. Schwerhörigkeit im Alter ist sehr häufig. Das Gehör ist biologisch für rund 40 Jahre ausgelegt, nachher kommt es zu Einschränkungen.
Wie viele sind betroffen?
Nach der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, sind 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung von Schwerhörigkeit betroffen. Das wären in der Stadt Luzern etwa 10’000 Personen. In der Schweiz hört eine Million Menschen nicht gut, rund 220'000 Personen haben ein Hörgerät.
Was bedeutet Schwerhörigkeit?
Das ist ein schwieriger Begriff. Denn wir können nicht eindeutig definieren, wie viel Dezibel Hörverlust die Schwerhörigkeit ausmachen. Auch wenn die Steuerbehörde des Kantons Luzern einen Hörverlust von 55 Dezibel auf beiden Ohren voraussetzt, damit man wegen der Schwerhörigkeit Steuerabzüge machen kann.
Wie merke ich, dass ich nicht mehr so gut höre?
Der Hörverlust kommt meist schleichend und zeigt sich im Alltag. Wenn ich zum Beispiel immer wieder fragen muss: «Hä, was hesch du gseit?» Oder wenn im Konzertsaal die Töne nicht stimmen. Die Partnerin nachfragt, weil sie schon wieder keine richtige Antwort bekommen hat. Das Gegenüber irritiert ist, weil die Antwort nicht zur Frage passt. Oder du im Restaurant nicht merkst, dass dich der Kellner angesprochen hat. Das ist vor allem dann heikel, wenn ich von hinten angesprochen werde – und dann oft falsch oder gar nicht reagiere.
Warum ist das Zuhören in manchen Restaurants so ermüdend?
Weil die Akustik höchst unterschiedlich wirkt. Es empfiehlt sich, in einer Ecke Platz zu nehmen und am Tisch darauf zu achten, dass das bessere Ohr dem Gesprächspartner zugewandt ist. Auch während einer Sitzung lohnt es sich, den richtigen Platz zu wählen. Auch darf von den Kolleginnen und Kollegen erwartet werden, dass sie langsam und deutlich reden und sie dich anschauen, denn wir alle sind Lippenleser. Jedenfalls hilft es nichts, einfach zu schreien – das gibt viel zu viel Schall.
Was tun, wenn die Partnerin dem Partner zu verstehen gibt, dass er nicht mehr richtig hört – oder umgekehrt?
Dann würde ich beiden empfehlen, gemeinsam einen Hörtest zu machen. Bei einem HNO-Arzt, einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt, oder bei einem Akustiker. Denn schlecht hörende Ohren, aus welchen Gründen auch immer, können in der Beziehung zu schweren Spannungen führen. Beim Arzt kommen die Fakten dann auf den Tisch, vielleicht liegt es ja nur an verstopften Ohren.
Was sind die Folgen der Schwerhörigkeit?
Sie führt oft zu einem sozialen Rückzug. Vor allem dann, wenn ältere Frauen und Männer mit dem Hörtest zuwarten. Im Durchschnitt, so unsere Erfahrungen, gehen viele ältere Personen sieben Jahre zu spät zu einem Arzt oder Akustiker, weil sie glauben das gehöre zum Altwerden. Sie hören immer schlechter, gehen weniger unter die Leute und geraten zwangsläufig in eine Abwärtsspirale. Das Gehirn empfängt immer weniger akustische Signale und stellt schliesslich bestimmte Frequenzen ab. Ein Teufelskreis.
Muss ich mich ab einem bestimmten Alter auf das Hören testen lassen?
Ich möchte das nicht an einer Alterslimite festmachen. Aufhorchen muss ich, wenn mich gewisse Geräusche irritieren. Also ich zum Beispiel nicht sicher bin, ob das nun ein Vogel oder sonst ein Pfiff war. Oder einem Gespräch nicht mehr folgen kann und schnell ermüde beim Zuhören. Spätestens dann würde ich eine medizinische Abklärung vornehmen oder beim Akustiker ein Audiogramm machen lassen.
Kann ich das Gehör trainieren?
Ja, bestimmt, ein richtiges Hörtraining kann durchaus helfen. Vor allem das Training in der Gruppe, kombiniert mit Lippenlesen, ist hilfreich. Bei Pro Audito bieten wir ein solches Training seit Jahren an. Es genügt nicht, ein neues Hörgerät zu kaufen. Unser Gehirn muss nach einer längeren Hörentwöhnung lernen, die Signale wieder richtig einzuordnen. Es muss zum Beispiel ein Wasserrauschen vom Zeitungsblättern unterscheiden. Hören und Verstehen sind nicht dasselbe. Dies zu wissen ist zentral und ein entscheidender Grund, bei Hörverlust nicht zuzuwarten. Ein Hörgerät funktioniert nicht wie eine Brille.
Warum zögern viele, sich ein Hörgerät zu beschaffen? Noch immer ein Stigma des Alters?
Das hat sich gegenüber früher verbessert. Heute scheut man eher die mühsamen Abklärungen und allenfalls auch die hohen Kosten. Ein Hörgerät bedingt einen mehrwöchigen Anpassungsprozess, vielleicht muss ich vier-, fünfmal zum Akustiker, bevor es stimmt. Viele geben zu schnell auf. Wir gehen davon aus, dass die Hälfte der Hörgeräte nutzlos in einer Schublade liegen.
Was kostet ein Hörgerät?
Manchmal genügt ein einfaches Gerät für 1000 Franken, bei einem massiven Hörverlust können die Kosten bis zu 8000 Franken ausmachen.
Was zahlt die AHV an mein Hörgerät?
Die AHV zahlt alle fünf Jahre 630 Franken einseitig und 1237.50 beidseitig. Wer erwerbstätig ist, erhält von der Invalidenversicherung alle sechs Jahre 840 Franken einseitig und 1650 beiseitig, bei einem Härtefall übernimmt sie bestensfalls die Gesamtkosten.
Was ist eine induktive Höranlage?
Laut Behindertengleichstellungsgesetz müssen in öffentlich zugänglichen Bauten und Anlagen Höranlagen eingerichtet werden. Eine induktive Höranlage – auch Induktionsschleifenanlage, Induktionsschleife, seltener Ringschleifenanlage – ist eine technische Einrichtung, mit der Audiosignale wie Musik oder Redebeiträge in Veranstaltungsräumen für schwerhörige Personen zugänglich gemacht werden können. Die Tonsignale werden dazu in analoge elektrische Ströme umgewandelt und diese über eine im Raum ausgelegte Induktionsschleife als elektromagnetisches Wechselfeld ausgesendet. Mit Hörgeräten, die eine speziell eingebaute Empfangsspule (sogenannte T-Spule) haben, können diese Tonsignale empfangen und störungsarm wiedergegeben werden.
Werden Frauen und Männer mit Hörbehinderungen in der Schweiz diskriminiert?
Das Behindertengleichstellungsgesetz wird in der Schweiz nur unzulänglich umgesetzt. Während in anderen Ländern induktive Höranlagen, etwa im öffentlichen Verkehr, oft Standard sind und jeder Bus und jedes Bergbähnli damit ausgerüstet ist, fehlen bei uns vielerorts solche Hörhilfen. Zum Beispiel in Kirchen, in Konzertsälen wie dem KKL, an der Kantonsschule Alpenquai oder in Gemeindesälen. In den Kinos sind sie zum Teil vorhanden, werden aber oft nicht eingeschaltet, sind schlecht gewartet und die Signaletik wird vernachlässigt. Durchsagen im Bahnhof sind kaum zu verstehen, am Gemeindeschalter ist die induktive Höranlage nicht vorhanden. Es gibt viele Versäumnisse. Wir haben inzwischen in der Zentralschweiz fünf Funktionskontrolleure im Einsatz, denn das muss sich ändern. Von der Inklusion bei Menschen mit Schwerhörigkeit sind wir jedenfalls noch weit entfernt.
12. April 2022 – beat.buehlmann@luzern60plus.ch
Michiel Aaldijk (58) ist Geschäftsleiter von pro audito luzern. Der Verein hat zum Ziel, Menschen mit einer Hörbehinderung in der Gesellschaft zu integrieren, sie zu fördern und zu betreuen. Dazu gehören Hörtrainings mit Lippenlesen für Menschen mit Schwerhörigkeit zur Erhaltung der Kommunikationsfähigkeit; Beratung bei persönlichen, finanziellen und sozialen Problemen; Unterstützung bei Ansprüchen gegenüber Sozialversicherungen; Orientierung über medizinische und technische Hilfen sowie über Rehabilitationsmöglichkeiten. Die Geschäftsstelle ist an der Hirschmattstrasse 35 in Luzern. Pro Audito Luzern ist erstmals mit einem Stand am Marktplatz 60plus vertreten, der diesmal um das Wort Hören kreist. Der Marktplatz findet am 14. Mai 2022 in der Kornschütte in Luzern statt.