Eine vertraute Familienbande (v.l): Lucie Linder (auf dem Bild 92 Jahre alt) mit Tochter Christine und den Enkelinnen Nora und Elina. Bild: zvg
Alt und Jung im gleichen Haus: Ein Geben und Nehmen
Lucie Linder lebte 17 Jahre unter demselben Dach wie ihre Tochter und ihr Sohn mit Familien. Auf diese Erfahrung von Nähe blickt Tochter Christine Linder (64) mit Freude zurück, wie sie nachfolgend berichtet. Teil 3 der Serie «Wenn die eigenen Eltern älter werden».Aufgezeichnet von Eva Holz
«Meine Mutter betonte immer, dass sie ins Altersheim gehen werde, wenn sie einmal den Alltag nicht mehr selbständig bewältigen könne. Für mich kam das nicht in Frage, das wollte ich keinesfalls, obwohl sie oft erzählte, wie streng es war, als die eigene Mutter bei ihr lebte. Ich jedoch dachte, es wird schon gehen, es soll in geeignetem Rahmen ein Nehmen und Geben sein.
Der glückliche Zufall wollte es, dass mein Bruder mit Frau und ich mit meinem Ehemann ein älteres Dreifamilienhaus mit grossem Garten in einem gemütlichen Quartier kaufen konnten und die beiden Kinder meines Bruders und unsere eigenen drei Mädchen dort aufwachsen durften. Als die Dachwohnung frei wurde, entschloss sich meine Mutter Lucie, mit uns zu wohnen. Entscheidend für sie war, dass sie im Haus ihre eigenen vier Wände hatte. Ein idealer Kompromiss, s’Füfi onds Weggli also.
Schon bevor wir alle zusammen im selben Haus wohnten, war uns meine Mutter immer sehr nahe – nicht zuletzt wegen der Grosskinder, die sie regelmässig hütete. Wichtig zu erwähnen ist, dass meine Mutter eine sehr eigenständige Person war. Sie wuchs als Einzelkind auf, lernte Kinderkrankenschwester und richtete in Brasilien ein Kinderspital ein. Sie hatte für die damalige Zeit eher spät geheiratet, und als ich neun Jahre war, starb mein Vater. Wir waren dannzumal im Ausland und meine Mutter wusste zuerst nicht, wo sich mit den Kindern niederlassen. Da mein Vater Verwandte in Luzern hatte, wollte sie nahe von ihnen sein. Ihre Mutter zügelte aus dem Thurgau nach Luzern, um sie zu unterstützen. Wie bereits erwähnt, hatte unsere Mama ihre eigene Mutter bei sich bis ins hohe Alter. Als wir drei Kinder aus dem Haus waren, nahm sie eine Stelle als Kinderkrankenschwester in einem Heim für beeinträchtigte Kinder an, bildete sich weiter und hatte dadurch Kontakte zu Betreuerinnen und Lehrpersonen. Viele dieser Kontakte blieben ihr bis zuletzt erhalten.
Tatsächlich war es schliesslich ein Geben und Nehmen. Lucie war eine super Köchin – natürlich vor allem in den Augen der Kinder. Sie verpflegten sich manchmal lieber bei Omi, die wunderbare Knöpfli mit Käse machte, Hackbraten, Plätzli mit Tomatenspaghetti usw. Alle fünf Kinder des Hauses waren eingeladen, sogar Freundinnen unserer Kinder genossen das Essen bei ihr. Wenn Lucie Knöpfli machte, dann hörten wir das, dieses Schlagen mit der Kelle im Teig. Denn wenn sie etwas machte, dann richtig. Lucie war geschickt, schnell und gut organisiert. Wenn ein Kind eine Verletzung hatte, gingen sie zu Omi hoch. Sie verarztete die Kinder liebevoll, schenkte ihnen Aufmerksamkeit, konnte aber auch sagen: «Das ist nicht so schlimm.» Und die Kinder wussten, dann ist es so.
Ich konnte sie bei kniffeligen Sachen um Rat fragen, und sie sah die Dinge meist nicht so schlimm wie ich. Umgekehrt schätzte sie es, dass immer jemand von der Familie im Haus war und sie sich nicht einsam fühlte. Meine Mutter war eigentlich an jedem Fest dabei. Auch reiste ich mit ihr in die Ferien, manchmal ohne, manchmal mit den Kindern. Und wenn wir vom Arbeiten heimkamen und unsere Kinder nicht in der Wohnung waren, fanden wir sie bei der Mama – meist am Essen eines Flans und beim TV schauen, Dinge, die bei uns weniger erlaubt waren.
Lucie ging meist täglich zu ihren Freundinnen Kaffee trinken. Und abends wollte sie ihre Ruhe, das heisst, sie war allein in ihrer Wohnung. Die beidseitigen Abgrenzungen haben sich irgendwie natürlich ergeben. Oft assen wir gemeinsam und zogen uns danach wieder in unsere eigenen Wohnungen zurück. Wir haben viel voneinander gewusst, waren bei Freud und Leid nahe zusammen. Doch es gab auch Dinge, die ohne Grossmutter, also nur in der eigenen Familie, besprochen wurden.
Lucie lebte von 1998 bis 2015 mit uns im Haus. Als sie schwächer wurde, haben wir entsprechend Unterstützung organisiert. Verschiedene vertraute Personen haben Ämtli übernommen. Doch plötzlich hatte sie entschieden, sich im Altersheim anzumelden und fand schnell einen Platz. Ich musste furchtbar weinen, dass das so war, aber Lucie meinte, dass sie von jetzt an mehr Betreuung brauche, auch nachts, und sie sich sicherer fühle im Heim. Eine Verwandte erklärte mir, dass ich die Entscheidung meiner Mutter akzeptieren müsse. Dies war für mich ein schwieriger Moment, denn es entsprach überhaupt nicht meiner Haltung. Meine Mutter lebte die letzten drei Jahre im Altersheim und starb 93-jährig auch dort. Wir begleiteten sie bis zu ihrem Tod, doch sie konnte erst gehen, als sie einen kurzen Moment alleine war.
Das Wohnen unter dem gleichen Dach hat viele positive Aspekte, aber man darf dabei nicht kompliziert sein. Denn bei bester Planung kommt vieles anders. Beweglichkeit, Toleranz, Humor und Gelassenheit sind erforderlich. Ich selber denke mit vielen guten Erinnerungen an die gemeinsame Zeit zurück.»
Teil 1: Rollentausch: Wenn die eigenen Eltern Begleitung brauchen
Teil 2: «Es bedeutet viel, wenn die Kinder den alten Eltern mit Empathie begegnen»
13. Juli 2022 – eva.holz@luzern60plus.ch
Diese Artikelreihe ist zuerst im Magazin «active&live» erschienen.