Älter werden mit schöner Aussicht
Von Hans Beat Achermann
Zu ihren Füssen liegt die Stadt, zwischen Steinhofpark und Stanserhorn, darüber ein grosses Stück Himmel. Die Aussicht ist betörend und ungewohnt. Das war denn auch ein Kriterium vor 16 Jahren: die Aussichten auf eine Wohnung mit Aussicht. 25 Jahre lang hatten sie an der Kleinmattstrasse in einer 4-Zimmer-Wohnung gelebt, viel Umgebungslärm, keine Fernsicht, laute Nachbarn. Robert ging vorzeitig in Pension, Angela erhielt die AHV, der Sohn verliess die elterliche Wohnung: Es war der Zeitpunkt, sich wohnungsmässig neu zu orientieren. Das städtische Eichhof-Hochhaus war frisch renoviert worden, und die Erstmieter konnten wählen: Bollschweilers entschieden sich für eine 2-Zimmer-Alterswohnung im 9. Stock, Nord-Ost-Lage, Balkon, Abstellraum, Keller, aber nur halb so gross wie die bisherige Wohnung. „Natürlich muss man sich einschränken“, sagt Robert Bollschweiler. Doch Besitz war für die beiden nie so wichtig. Sie hatten immer in Mietwohnungen gelebt und nie ein Auto besessen. „Wir haben auch nie von einem Haus geträumt“, ergänzt Angela. Für Robert, der 30 Jahre lang als Berufsberater gearbeitet hatte, war es zudem immer wichtig gewesen, seinen Arbeitsort an der Obergrundstrasse zu Fuss erreichen zu können.
Verzichten kann auch befreien
War es nicht schmerzhaft, sich von vielen Sachen trennen zu müssen? Beide antworten spontan: „Es war befreiend.“ Am schwierigsten war es für Robert, sich von Büchern zu trennen, für Angela waren es grössere Möbelstücke, die sie weggeben musste. „Aber jetzt tut’s nicht mehr weh.“
Wie haben die Leute im Umfeld reagiert, als sie im Alter von knapp über sechzig in eine Alterswohnung zogen? „Natürlich gab es erstaunte Fragen: Was, jetzt schon?“ Inzwischen aber habe es gekehrt. Viele Gleichaltrige hätten Mühe, sich von ihren Häusern zu trennen und würden sie beneiden um ihre Wohnsituation. Sie selber haben es nie bereut und sie hätten sich auch nie die Frage gestellt, wieder umzuziehen. Robert und Angela Bollschweiler strahlen eine zufriedene Gelassenheit aus, nur kurz einmal sprechen sie den Gedanken an ein drittes Zimmer an, „damit wir Enkel Henry auch über Nacht hier haben könnten.“ Vor anderthalb Jahren sind sie zum ersten Mal Grosseltern geworden.
Engagement statt Langeweile
Rund 100 Leute wohnen im 15-stöckigen Hochhaus, dessen fünf unterste Etagen für betreutes Wohnen reserviert sind. „Wir haben hier viele interessante Leute getroffen, neue Freundschaften geknüpft.“, sagt Robert Bollschweiler. Er geht regelmässig mit einem Heimbewohner Schach spielen im Steinhof, während sich seine Frau in der Nachbarschaftshilfe engagiert, Alters- und Pflegeheimbewohnerinnen zum Arzt oder ins Spital begleitet. „Es ist uns nie langweilig“, beteuern beide. Auf dem Klavier stehen die Noten zu Mozarts „Più non si trovano“. Zwei, drei Stunden täglich übt Robert, begleitet ein Duett, spielt auch bei Gottesdiensten in Altersheimen. Seit ein paar Jahren fordern sie sich jeden Abend mit Scrabble heraus. „Es ist wichtig, dass man einander gut versteht, wenn man auf doch eher engem Raum lebt“, sagt Robert, und es ist spürbar, dass sich die beiden sehr gut verstehen – auch wenn sie nicht alles gemeinsam unternehmen. Robert liebt die Berge, nicht nur als Fixpunkte am Horizont, sondern als Bergwanderer. Oftmals geht er frühmorgens auf die Rigi oder den Pilatus, mittags ist er wieder zuhause.
Am Anfang einer Kette
Der ausgebildete Psychologe und Graphologe, der selber mehrere Bücher verfasst hat, zeigt uns abschliessend noch lachend sein Büro: Hinter der offenen Wohnzimmertür steht auf einem Regal ein Laptop samt Drucker. „Früher hat man auch am Stehpult gearbeitet“, schmunzelt Robert. Ab und zu verfasst er noch Artikel für eine graphologische Fachzeitschrift, macht hie und da ein Gutachten. Angela hat sich eine Ecke im Schlafzimmer als Arbeitsplatz eingerichtet.
Den „Schnüerli-Alarm“ im Bad und im Korridor haben sie noch nie gebraucht. Noch geniessen sie die Aussicht in die Berge, die täglich wechselnden Stimmungen am Himmel und das nächtliche Lichtermeer. Robert und Angela Bollschwiler, die sich in Paris in der Mission catholique kennen gelernt haben, schauen realistisch in die Zukunft: „Man wird jedes Jahr schneller müde.“ Und Robert ergänzt trocken: „Wir wissen, dass die Alterswohnung am Anfang einer Kette steht.“ Alterswohnung, Altersheim, Pflegeheim…
23. Februar 2015