"Jede kann ihre Macken ausleben"
Von Beat Bühlmann*
Sie haben fünf Tische aufgestellt, alle verfügbaren Stühle herbei geschafft und Kaffee und Kuchen serviert. Wir sind zu Besuch beim Wohnprojekt OLGA, der Kurzformel für "Oldies leben gemeinsam aktiv", einem deutschen Pionierprojekt für neue Wohnformen im Alter. Die Oldies: das sind elf Frauen zwischen 63 und 78 Jahren, die in eigenen Wohnungen leben und sich als Wohngemeinschaft verstehen. Sie sind 2003 hier eingezogen, zwei sind seither verstorben, eine ist sonst ausgezogen. "Sie wollte mehr Entertainement", sagt Dorothea Hoffmeister (70), die Wortführerin, in ihrer selbstironischen Art. Sie selber möchte, wie die meisten anderen, "bis zum Ende hier wohnen bleiben".
Selbständig in einer Gemeinschaft
Die Initiative zu diesem Projekt ging von Frauen aus, und das ist kein Zufall: In Nürnberg leben - wie auch anderswo - fast 60 Prozent der über 75-jährigen Frauen in einem Single-Haushalt (bei den Männern sind es 23 Prozent). Mit dem Projekt OLGA, so die Idee, sollte gemeinschaftliches, selbstbestimmtes Wohnen ermöglicht werden - und das zu bezahlbaren Preisen. Das Haus, in dem die Frauen-WG eingemietet ist, gehört der städtischen Wohnbaugesellschaft. Die Mieten für die fünf 2-Zimmer und sechs 3-Zimmerwohnungen (von 47 bis 60 Quadratmeter) belaufen sich auf rund 400 Euro. Alle haben einen Balkon mit Blick in den Garten, es gibt einen Lift in alle drei Etagen, die Wohnungen sind barrierefrei, die Auffahrt ist rollstuhlgängig.
Alle 14 Tage treffen sich die Olgas zu einer WG-Sitzung, auch der Besuch aus der Schweiz musste von diesem Gremium abgesegnet werden. Ebenso wurde geregelt, wer den Tisch deckt, den Kaffee kocht und für das Gespräch zur Verfügung stellt. Auch Neuaufnahmen - es gibt eine Warteliste - werden vom Kollektiv entschieden. "Wer hier wohnen will, wird begutachtet", sagt Neu-Olga Anna Maria. Beim letzten Mal hatten sechs Interessentinnen bei diesem "Casting" vorzusprechen. Nur wenn alle einverstanden sind, wird man in die WG aufgenommen. Und es empfiehlt sich, sein Interesse rechtzeitig anzumelden: Wer über 63 Jahre alt ist, hat keine guten Karten. "Es müssen jetzt jüngere Frauen nachkommen", sagt Dorothea Hoffmeister. Denn das Durchschnittsalter steigt.
Der laute Fernseher nervt
Was macht die Wohngemeinschaft aus? Neben der regelmässigen WG-Sitzung, die alle zwei Wochen in der Gemeinschaftswohnung (mit Küche und Gästebetten) stattfindet, gehen die Olgas gemeinsam ins Kino oder ins Theater. Höchst beliebt sind Spielabende und Konzerte, doch zu einem Chor hat es bis jetzt nicht gereicht. Nur zwei wollen (oder können) singen. Sie treffen sich einmal im Monat zum gemeinsamen Frühstück, zum Leidwesen von Dorothea Hoffmeister bereits um 10 Uhr, was ihr eindeutig zu früh ist, und einmal pro Jahr gehen sie zusammen in die Ferien, in diesem Jahr an den Tegernsee. Doch es gab auch schon ein Jahr, da konnten sie sich nicht auf ein Reiseziel einigen - und so fiel die Ferienreise ins Wasser. Gemeinschaft ist diesen Frauen wichtig, doch die Autonomie hat manchmal Vorrang. So geht die eine dann halt nicht zum Frühstück oder meldet sich für ein paar Wochen ab, weil sie die Enkel besuchen will. Oder mit ihrem Ex für drei Monate auf Reisen geht. "Wir pflegen die Gemeinschaft", sagt Dorothea Hoffmeister, "aber wir wollen nicht alles vorschreiben und reglementieren." Sie leben ihre Wohngemeinschaft ziemlich pragmatisch. So hängt bis heute keine Lampe an der Diele in der Gemeinschaftswohnung, weil sie sich nicht auf ein Modell einigen konnten.
Das Zusammenleben in einer WG wird im Alter ohnehin nicht einfacher. Da kann nur schon der "Wäschestau" in der Waschküche stören oder ein Fernseher, der bei offener Balkontür zu laut plärrt, das ganze Haus nerven. "Jede hat ihre Eigenarten", sagt Märit Heinrich, "und das kann schon nerven." Warum funktioniert es trotz allem? "Es braucht viel Toleranz, damit jede ihre Macken ausleben kann."
Keine Pflege übernehmen
Und wie stellen sich die Olgas die Zukunft vor, wenn die Pflegebedürftigkeit allenfalls zunimmt? So genau mag sich das niemand vorstellen. Einen gemeinsamen Pflegekurs, den sie im Hinblick auf den "Ernstfall" besuchten, haben sie frühzeitig abgebrochen. Denkbar wäre, bei erhöhtem Pflegebedarf von mehreren Bewohnerinnen gemeinsam eine Pflegekraft anzustellen. So sehr sie auf Nachbarschaftshilfe setzen und beispielsweise die Wohnungsschlüssel auf der Etage tauschen oder für andere einkaufen, so wenig sehen sie sich in der Lage, etwa Demenzerkrankte selber zu betreuen. "Wir können keine Beaufsichtigung machen oder die Pflege übernehmen", sagt Dorothea Hoffmeister. Hingegen sind alle verpflichtet, eine Patientenverfügung zu erlassen und eine Telefonliste mit den nächsten Angehörigen aufzulegen.
Und was ist mit den Männern? Im Prinzip möglich, denn sie hatten auch schon einen "Lover" im Haus, wie sie lachend einräumen. Doch eigentlich sind Männer nicht erwünscht. "Denn wir machen hier nicht betreutes Wohnen für Männer." 30. 5. 2016
*Das Treffen mit den "Olgas" kam im Rahmen einer Studienreise nach Nürnberg der Fachgruppe Angewandte Gerontologie (FGAG) der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie zustande.