Yvonne Volken. Bild: Joseph Schmidiger

Einsamkeit (be-)trifft uns alle

Von Yvonne Volken

Ein Bekannter ist gestorben. Ich lese die Traueranzeige und rechne: Die Anzeige erschien erst drei Wochen nach seinem Tod. Wie er wohl gestorben ist? Hoffentlich nicht allein und unbemerkt. Er fühle sich manchmal sehr einsam, hatte er vor zwei Monaten, beim letzten Treffen, gestanden. Mit seinen Freunden von früher und auch mit seiner Familie habe er gebrochen. Kein Streit, nein. «Man» habe sich einfach nicht mehr gemeldet und fertig.

Ghosting heisst dieser Vorgang in Neudeutsch – sich einfach nicht mehr melden, ohne grosse Erklärung und auch ohne Streit, sich davonschleichen wie ein Gespenst… Auch ich habe mich nicht mehr gemeldet bei ihm. Obwohl er mich im Winter überraschend zum Essen eingeladen hatte. Er war ein freundlicher, angenehmer älterer Herr mit dezidierten Meinungen. Aber seine Einladung kam für mich zum falschen Zeitpunkt beziehungsweise in einer Zeit – ein halbes Jahr nach dem Tod meines Mannes –, wo auch ich zu realisieren begann, wie schmerzhaft dieses vage Gefühl der inneren Leere und Lebensunlust sein kann, dem ich den Namen Einsamkeit gebe.

Ich hatte meiner ganzen anteilnehmenden Umgebung zuvor stolz verkündet, dass ich gut alleine klarkomme und mit dem neuen Alltag als allein Lebende wenig Mühe hätte. Alleinsein gilt ja als eher positiv. Das Gefühl der Einsamkeit dagegen sei negativ besetzt, schreibt denn auch der Wiener Psychoanalytiker Rainer Gross in seinem Buch «Einsam oder allein». Obwohl das Buch 2021, im Nachgang der Corona-Zeit, erschienen ist, stellt Gross fest, dass das subjektiv erlebte Gefühl der Einsamkeit wenig zu tun habe mit den Sozialkontakten eines Menschen.

Darum, so rät der Psychiater, müssten wir in erster Linie lernen, uns selbst auszuhalten. Und dazu sei Alleinsein nötig. Im Alleinsein stecke ein riesiges Potenzial: «Wenn ich allein, einigermassen zufrieden und im besten Falle glücklich sein kann, bin ich in einem guten Sinne unabhängig», sagt Gross. Eine schöne, manchmal auch hilfreiche Botschaft, finde ich, auch wenn sie ein wenig den Geruch nach Anstrengung und Selbstverantwortung hat. Also auch hier: Jede:r ist ihres/seines Glückes Schmied:in.

In der Schweiz fühlt sich jede dritte Person einsam, wenn wir den Zahlen des Bundesamts für Statistik Glauben schenken. Bedenklich und traurig ist, dass es viele sehr junge Menschen sind, zwischen 15- und 24-Jährige, die sich einsam fühlen (48 Prozent). Dazu besonders viele Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, nicht aber unbedingt über 65-Jährige. Der Anteil der Einsamen nimmt nämlich bei den Älteren eher ab. Doch auch in der dritten und vierten Lebensphase leidet jeder dritte Mensch darunter, selten einen Anruf, keine SMS, keine Einladung zu erhalten, leidet darunter, am Leben irgendwie nicht teilhaben zu können und hat Angst davor, einsam zu sterben, unbemerkt.

Wer sich im Internet, auf dem Buchmarkt und in der Medienwelt umschaut, stellt fest, dass seit Corona, der Pandemie, die uns zum zeitweiligen Rückzug aus vielen sozialen Zusammenhängen zwang, das Phänomen Einsamkeit sozusagen aus der «Schäme-dich-Ecke» ins Scheinwerferlicht besorgter westlicher Gesellschaften katapultiert wurde. Seither ist das Thema omnipräsent und zum Schlagwort für einen gesellschaftlichen Notstand geworden. Ob das hilft, ob es sich leichter darüber reden lässt als vor zehn Jahren?

Neben der Einsamkeit peinige sie das Gefühl, persönlich versagt zu haben, stellt eine junge Frau in einer Radiosendung fest. Und ein Mann, der nach dem Ende einer Beziehung unter Einsamkeit leidet, doppelt nach, die andern trauten sich oft nicht nachzufragen. «Ich fürchte, die Frage nach einer peinlichen Geschlechtskrankheit würde uns einfacher von den Lippen gehen. Weil Einsamkeit in unserer Gesellschaft einfach keinen Platz hat.» Ich selber habe mich nicht nachzufragen getraut bei meinem Bekannten, der nun gestorben ist. Er lebte zurückgezogen, war aber bei bester Gesundheit, stets freundlich und aufmerksam und strahlte die Gelassenheit eines Menschen mit viel Lebenserfahrung aus, den nicht mehr viel erschüttern kann. Wir alle, die wir ihn gelegentlich trafen, waren gern mit ihm zusammen, aber näher kennenlernen, ihn nach Hause einladen, dazu reichte unsere Sympathie nicht aus.

Ist Einsamkeit eine Zivilisationskrankheit? Ein bedrohliches, krankmachendes Phänomen der durchindividualisierten Gesellschaft? Oder fehlt es uns allen ganz einfach an Leidensfähigkeit? Klaus Bader, Psychologischer Leiter am Zentrum für Psychosomatik und Psychotherapie der UPK (Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel), scheint ein wenig in diese Richtung zu resümieren: Unsere Frustrationstoleranz bezüglich Einsamkeitsgefühle habe abgenommen. «Die heutige Gesellschaft kann immer weniger damit umgehen, dass negative Gefühle zum Leben dazu gehören – und es gesund sein kann, ihnen einen gewissen Raum einzugestehen», wird Bader in einem Feature von «Swissinfo» zitiert («Im Land der Einzelmenschen» von Anna Miller).

Der deutsche Schriftsteller und Journalist Daniel Schreiber sieht es so: «Die Wahrheit ist, dass auch schmerzhafte Emotionen Geschenke für uns bereithalten. Es ist schwer, das zu sehen und man könnte gut auf sie verzichten, wenn man in ihnen gefangen ist und alles tut, um ihnen zu entkommen. Doch häufig bringen sie uns Dinge bei, die wir anders nicht lernen würden», schreibt er in seinem Bestseller «Allein». Nicht nur tröstlich, oder?

27. April 2023 – yvonne.volken@luzern60plus.ch


Zur Person
Yvonne Volken, geboren 1956, war u.a. als Buchhändlerin, Journalistin, Kulturveranstalterin und Klassenassistentin tätig. Sie kam so mit ganz unterschiedlichen Lebenswelten in Kontakt. Seit ihrer Pensionierung sammelt sie Erfahrungen als betreuende Angehörige und als Grossmutter.