Ursula Flury im Gespräch mit einem Migranten.
Das Lernatelier im Hello Welcome, eine sinnvolle Investition in die Zukunft
Von Monika Fischer (Text) und Hanspeter Lehner (Bild)
Ursula Flury, 1950, war Sozialarbeiterin, dann Journalistin und hat danach u.a. bei der Aids-Hilfe Schweiz die Prävention für Frauen aufgebaut. Vier Jahre sass die Mutter einer Tochter und eines Sohnes für das Grüne Bündnis im Grossrat. Später arbeitete sie nach entsprechender Ausbildung als selbständige Organisationsberaterin. Mit 60 beendete sie ihre berufliche Tätigkeit und begann an der Universität Luzern ein Studium in Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Geschichte. Als 66-Jährige schloss sie es mit dem Master ab.
Luzern 60plus: Wie kamen Sie dazu, im Pensionsalter etwas Neues aufzubauen?
Ursula Flury: Über eine Freundin kam ich vor etwa drei Jahren ins HelloWelcome, den Offenen Treff für Flüchtlinge, Menschen mit Migrationshintergrund und Einheimische. Dort begegnete ich vielen Geflüchteten, die besser Deutsch lernen wollten, jedoch unter dem alten Asylgesetz während der drei bis fünf Jahre dauernden Wartezeit auf einen Asylentscheid dazu keine Gelegenheit hatten. Ausser einem kurzen Deutschkurs vom Kanton waren die Geflüchteten zur Untätigkeit gezwungen. Ich traf damals viele motivierte, junge Menschen, die gerne etwas lernen wollten, um später ihr Leben selbständig bestreiten zu können. Für sie wollte ich eine Möglichkeit schaffen, die Wartezeit sinnvoller zu nutzen.
Wie sind Sie beim Aufbau des LernAteliers vorgegangen?
Die Verantwortlichen des Hello Welcome begrüssten das Projekt und stellten die am Vormittag nicht benutzten Räume am Kauffmannweg 9 zur Verfügung. Durch Zufall fand ich eine Lehrerin, Yaël Bornstein, die das nötige didaktische Fachwissen einbrachte und Kontakte zu geeigneten Lehrpersonen herstellte. Für die Finanzierung der Löhne der Lehrerinnen stellte ich Gesuche bei Stiftungen. Bald konnten wir auch einige Freiwillige zur Unterstützung begeistern. Um nicht die ganze Verantwortung alleine tragen zu müssen, gründeten wir den Verein LernAtelier und bauten einen zusätzlichen Kreis von Freunden des LernAtelier auf. Diese unterstützen unsere Arbeit durch Vernetzung oder finanzielle Beiträge für besondere Bedürfnisse.
Wie hat sich das LernAtelier entwickelt?
Es wurde über Mund-zu-Mund-Propaganda unter den Geflüchteten rasch bekannt und entsprach einem grossen Bedürfnis. An den drei Vormittagen, Montag, Mittwoch, Freitag kamen zuerst 10, dann 20 und später bis 45 Lernende. Die Lehrpersonen bauten einen Stock an Lehrmitteln auf und führen regelmässig Weiterbildungen für die Freiwilligen durch. Heute wird das LernAtelier pro Vormittag von ca. 35 Lernenden besucht. Sie werden jeweils von einer Lehrperson und fünf bis sechs Freiwilligen unterstützt.
Wie funktioniert das LernAtelier?
Wir gehen von den Bedürfnissen der Besucherinnen und Besucher aus. Bei der Anmeldung klären wir kurz ihre Voraussetzungen ab: Herkunft, Schulbildung, Aufenthaltsdauer in der Schweiz sowie ihre Lernziele. Das Spektrum ist sehr breit und reicht von der Analphabetin bis zum Arzt. Wir teilen die Lernenden nach Sprachniveau den verschiedenen Tischen zu. Die zuständige Lehrerin und die Freiwilligen unterstützen die Lernenden bei dem, was sie aktuell brauchen.
Wo liegt der Unterschied zu einer Sprachschule und zum Hello Welcome?
Im Gegensatz zu einer Schule setzt das LernAtelier ganz auf Freiwilligkeit, auf Eigeninitiative und Selbstverantwortung. Es herrscht ein ruhiges, meist heiteres Lernklima. Im HelloWelcome spielen auch die soziokulturellen Aspekte eine wichtige Rolle. Die unterschiedlichen Angebote von LernAtelier und HelloWelcome ergänzen sich somit sehr gut.
Wer besucht das LernAtelier?
Heute sind es viele Menschen aus Afghanistan, Iran, aus Eritrea und Kurden aus Irak, Iran und der Türkei sowie Vereinzelte aus allen Weltregionen. Die Lernenden wohnen meist in der Stadt Luzern oder der Agglomeration. Andere wohnen weiter weg und haben dadurch einen längeren und somit auch teureren Reiseweg. Dadurch können viele das LernAtelier nicht besuchen. Dank der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt Luzern können wir nun die Fahrten finanzieren für diejenigen, die regelmässig kommen und motiviert sind. Die Zusammensetzung der Lernenden verändert sich ständig. Viele verlassen uns beim Erhalt eines positiven Aufnahmeentscheid, da sie dann wieder eine Schule besuchen können.
Wie hat sich der Rückgang der Anzahl asylsuchender Menschen ausgewirkt?
Wegen der Coronakrise kamen weniger neue Flüchtlinge zu uns, dafür erhöhte sich die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die innereuropäisch gestrandet sind und Deutsch lernen wollen.
Während des Lockdown war das LernAtelier ebenso geschlossen wie der Treff HelloWelcome. Gab es trotzdem eine Möglichkeit zum gemeinsamen Lernen?
Viele unserer Lernenden wollten zuhause weiterlernen. Die Lehrerinnen haben ein virtuelles Klassenzimmer eingerichtet, was sehr geschätzt wurde, da digitales Lernen über WhatsApp wie über Laptops möglich wurde. Es bildeten sich auch Tandems von Lernenden mit Freiwilligen, die sich telefonisch oder digital zum Teil intensiv austauschten. Doch waren wir alle sehr froh über die Wiederöffnung am 10. Juni mit den nötigen Vorsichtsmassnahmen.
Haben Sie aktuelle Wünsche und Anliegen?
Im Herbst werden wir neu auch Mathematik für AnfängerInnen anbieten. Es entspricht einem Bedürfnis, verfügen doch viele Geflüchtete über wenig Schulbildung. Besonders Mütter von schulpflichtigen Kindern haben eine hohe Motivation, rechnen, schreiben und lesen zu lernen, wenn sie selber nie eine Schule besuchen konnten. Auf den Herbst suchen wir darum noch weitere Freiwillige, sei es zur Unterstützung beim Deutsch lernen aber auch beim Vermitteln von Grundlagen des Rechnens auf Primarschulstufe.
Was müssen Freiwillige mitbringen?
Für die unterschiedlichen Sprachniveaus brauchen wir interessierte Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten. Wichtig ist uns eine wertschätzende Haltung den Lernenden gegenüber. Für bildungsferne Geflüchtete, die sich vor allem im Alltag besser verständigen wollen, genügt es, gut Deutsch sprechen und schreiben zu können. Für die höher qualifizierten Lernenden, die schnell vorwärts kommen oder sich auf eine Prüfung vorbereiten möchten, braucht es Freiwillige, die in Deutsch sattelfest sind und auch die Grammatik verstehen. Freiwillige können über Dauer und Häufigkeit ihres Einsatzes selber bestimmen.
Was können Sie den Freiwilligen für ihre Einsätze bieten?
Unsere Freiwilligen betonen immer wieder, wie viel ihnen der Kontakt mit den Lernenden gibt durch ihre Energie und lebensbejahende Stimmung. Trotz der schweren Schicksale ist viel Lebensfreude spürbar. Wir teilen die Freude, wenn jemand einen Test bestanden oder die Nachricht über einen positiven Entscheid erhalten hat, bieten jedoch auch Unterstützung bei Krisen und Problemen an.
Wie sollen Interessierte vorgehen?
Die Website anschauen und abklären, ob es passt oder am besten unverbindlich einen Vormittag schnuppern kommen.
Als Projektleiterin des LernAteliers präsidieren Sie den gleichnamigen Verein, geben ein Informationsbulletin heraus und organisieren Dankesanlässe für Freiwillige, Lernende und Freunde des Lernateliers. Was motiviert Sie für diese aufwendige Arbeit?
Es sind verschiedene Aspekte. Wichtig ist die Frage, was ich mit meiner beruflichen und persönlichen Lebenserfahrung zur Gesellschaft in der jetzigen Lebensphase beitragen kann. Ich habe mir auch überlegt, was ich mir für meine Kinder, hätten sie ein ähnliches Schicksal wie unsere Lernenden, wünschen würde. Ich wäre dankbar um Menschen, die sich um sie annähmen. - Viele Geflüchtete haben Schweres erlebt. Es trägt zur Heilung bei, wenn sie auch ihre Stärken zeigen können und eine Perspektive haben. Niemand möchte später von der Sozialhilfe abhängig bleiben. Dazu sind Sprachkenntnisse eine wichtige Voraussetzung. Eine Politik, die dazu führt, so viele junge Geflüchtete über Jahre in die Untätigkeit zu versetzen und damit die Sozialhilfe unnötig zu verlängern, widerstrebt mir auch als Steuerzahlerin. - Mein Engagement ist auch mit sehr viel Freude verbunden. Es ist befriedigend zu sehen, wie die Menschen aufblühen, wenn sie ein selbst gewähltes Ziel erreichen, eine Lehrstelle erhalten oder eine Prüfung bestanden haben. Dazu kommt, dass der alltägliche Umgang unter ihnen und auch mit den Freiwilligen geprägt ist von Höflichkeit, Wertschätzung, Humor und oft auch von gegenseitiger Hilfsbereitschaft. Dies erleichtert einen freundlichen, aufbauenden Kontakt, über viele kulturelle Differenzen hinweg.
Hier sind weitere Freiwillige willkommen
LernAtelier, Kauffmannweg 9, 6003 Luzern
Begleitetes Selbststudium unter Anleitung einer Lehrperson DaF und Freiwilligen. Montag, Mittwoch, Freitag, 9 – 12 Uhr.
Projektleitung: Ursula Flury, Tel. 041 410 26 84
info@lernatlierluzern.ch, www.lernatelierluzern.ch
Das LernAtelier pausiert vom 13. Juli bis 16. August 2020
HelloWelcome, Kauffmannweg 9, 6003 Luzern:
- Offener Treff für Flüchtlinge, Menschen mit Migrationshintergrund und Einheimische. Montag bis Donnerstag, 14 – 18 Uhr, Samstag, 12.30 – 15 Uhr. Daneben verschiedene weitere Angebote.
welcome@hellowelcome.ch, www.hellowelcome.ch