Birgit Aufterbeck Sieber. Foto: Joseph Schmidiger

Ein Loblied auf die Patentante

Von Birgit Aufterbeck Sieber

Wie jedes Jahr mache ich mich am frühen Morgen auf gen Norden, setze mit der Fähre über den Bodensee nach Lindau. Denn dort auf der Hafenmole steht dann: meine Patentante E., das ist meine Gotte. Als Knirps habe ich sie «Tante E.» getauft, weil mir Elisabeth zu lang schien. Jedes Jahr wirkt sie etwas kleiner, etwas zerbrechlicher, aber immer strahlt sie schon von weitem wie der Leuchtturm neben ihr. 

Es heisst ja, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen. Naja, vielleicht nicht gerade alle aus dem Dorf, aber die Gotten und Götti, sofern vorhanden, sind in der Regel Idealbesetzungen. Sie zählen zur Familie und sind doch Varianten, irgendwie anders als die Mutter oder der Vater. Oder Freunde der Familie, es müssen ja nicht zwingend die Geschwister der Eltern sein. Das ist wie bei den konzentrischen Kreisen. Entfernt man sich von der elterlichen Mitte, erscheint vieles in etwas anderem Licht, man betritt neues Terrain und bleibt doch auf sicherem Boden.

In meinem Leben war Tante E. schon immer da. Taufen, Kommunion, Beerdigungen, Hochzeiten, runde Geburtstage. Ein Familienfest war es erst, wenn auch sie dabei war. Wenn die Gesellschaft diskutiert, was eine Familie ist oder sein sollte, übersieht sie den unendlichen Wert, den Patinnen und Paten allein durch ihre Präsenz schenken: Zugehörigkeit und Geborgenheit. Sie ermutigen, hören zu, stehen bei, auch unmerklich. Manche haben besondere Fertigkeiten, können Lagerfeuer zaubern oder schön Klavier spielen. Von Tante E. bekam ich meine erste Zigarette. Gute Gotten und Götti stehen loyal zu den Eltern, aber klar auf der Seite des anvertrauten Kindes. Dann, und nur dann, geniessen sie auch in tiefster Pubertätskrise Vertrauen.

Ursprünglich sollten die Paten vor allem den Taufakt bezeugen. Dass Paten die Kinder aufziehen, falls den Eltern etwas zustossen sollte, ist auch heute noch oft mitgemeint. Wenn es gut läuft, steht die Verbindung ein Leben lang. Dann bereichert sie beide Seiten und sorgt für mehr Verständnis zwischen den Generationen. Die Kunst dabei: Man muss Draht halten. Nicht zu lose, nicht zu stramm. Nur reissen darf er nie. Das ist gar nicht so einfach, schliesslich ist so furchtbar viel los im Leben von Heranwachsenden, da stören schon die Eltern und für alles Übrige fehlt die Zeit. 

Die Meisterinnen unter den Patentanten schaffen Rituale, kleinere und grössere. Tante E. schenkte mir zur Kommunion eigenes Briefpapier mit meinem Namen, auf jedem Bogen oben links in grau eingedruckt. Seitdem schreiben wir uns jedes Jahr zu Weihnachten und Geburtstagen Briefe mit der Hand, nie unter acht Seiten. Was immer uns einfällt. Manchmal fliesst es nicht so, dann muss ich vorschreiben und dann schön abschreiben. Aber wir konnten 50 Jahre daran festhalten und so den Draht zueinander halten. Gute Patenschaft ist Langstrecke.

Grosse Erwartungen haben Tante E. und ich nicht bei unseren Treffen in Lindau. Einfach Zeit miteinander verbringen, man weiss ja nie. Da geht uns auch schonmal der Erzählstoff aus und der Gehalt unserer Unterhaltung flacht bedenklich ab. Fast immer schweigen wir eine Weile. Aber das ist nicht wichtig. Es geht darum, dass Tante E. und ich wieder in Lindau sitzen, hohen Quarkkuchen vor uns und gemeinsame Erlebnisse hinter uns. Und wenn ich am Abend wieder über den Bodensee zurückfahre: nie ohne das Datum für nächstes Jahr.

17. Juni 2024 – birgit.aufterbeck@luzern60plus.ch


Birgit Aufterbeck Sieber, 1968 geboren, ist bei Düsseldorf aufgewachsen. Sie studierte Geschichte, politische Wissenschaften und Kunstgeschichte in Bonn und lebt seit 1999 in Luzern. Neben vielen Tätigkeiten in Wirtschaft und Medien war sie von 2015 bis 2023 Präsidentin der Stiftung Luzerner Theater. Sie setzt sich weiterhin für eine neue Theaterinfrastruktur in einer vielseitigen Kulturstadt ein.