Legt Wert auf einen eigenen Stil: Verena Baumgartner.

Ein Farbtupfer in der Neustadt

Sie ist eine von 24 Porträtieren aus dem Buch «Im hohen Alter», das vom Forum Luzern60plus herausgegeben wurde: Verena Baumgartner (92). Sie fällt nicht nur mit ihren Hüten und farbigen Strümpfen auf.

Von Pirmin Bossart (Text) und Monique Wittwer (BIld)

In der Wohnung von Verena Baumgartner in der Luzerner Neustadt könnte man vor lauter Hingucken glatt verlorengehen. Hunderte von flauschigen Stoff-Teddybären empfangen uns im Korridor. In den Wohnräumen hängen Dutzende von Bildern an den Wänden. Viele haben Verena Baumgartner und ihr Mann selber gemalt. Auf Gestellen und Tischen stehen Figuren und Objekte. Bücher liegen auf dem Tisch. Es ist ein buntes Reich, in dem es sich die alleinstehende Frau gemütlich eingerichtet hat. «Ich wohne seit 40 Jahren hier. Mein Mann ist 1993 gestorben.» Schelmisch fügt sie an: «Seitdem bin ich hier alleine Herr und Meister.»

Pragmatisch und humorvoll
Die Frau steht aufrecht am Rollator, als sie uns an der Türe empfängt. Sie ist froh um die Gehhilfe. Ansonsten hat sie im Alter von 92 Jahren keine Beschwerden. «Es tut mir nichts weh. Eigentlich fühle ich mich kerngesund.» Eigentlich? Ach, der Arzt habe vor einiger Zeit festgestellt, dass ihr Herz schwächer geworden sei, meint sie. «Soll ich mir Sorgen machen? In diesem Alter doch nicht! Und ich spüre ja nichts. Wenn es Zeit ist, wachsen mir zwei Flügeli, und ich gehe.» Der Pragmatismus von Verena Baumgartner kommt gerne mit einer Prise Humor. Die Frau hat gelernt, sich durchzuschlagen, Schicksalsschläge zu überwinden, Gegebenheiten zu akzeptieren, das Positive zu sehen. Wo andere herumplaudern, wirft sie oft nur wenige Sätze ein. Diese aber sitzen.

Verena Baumgartner ist in Aarburg aufgewachsen, mit einer vier Jahre älteren Schwester. Die Kindheit war eher schwierig. Manchmal habe die Mutter, wenn es ihr nicht gut ging, wochenlang nicht mehr geredet. «Das fand ich schlimm.» Ihr Vater war Rangiermeister im Bahhnof Olten. «Er hat mit mir geredet, wenn die Mutter es nicht konnte. Von ihm habe ich auch die Fröhlichkeit und die Liebe für alles Schöne bekommen. Dafür bin ich sehr dankbar.» Nachdem sie die Aufnahmeprüfung an die Bezirksschule geschafft hatte, fand ihr Vater, dass das Meitschi in der Fabrik arbeiten könne. Das wollte sie nicht. Verena Baumgartner suchte selber eine Lehrstelle und fand sie im Warenhaus Von Felbert in Olten. «Eigentlich hätte ich gerne in einem Hutgeschäft gearbeitet, aber das gab es in der Umgebung nicht.»

Erste Wohnung im Sentihof
Der Beruf der Verkäuferin behagte ihr.m1955 heiratete sie den Mann aus Luzern, den sie auf dem Weg zur Arbeit im Zug kennengelernt hatte. Er war Kaufmann. «Unsere erste Wohnung war im Sentihof, im Hochhaus, achter Stock.» In Luzern arbeitete sie als Verkäuferin im Bahnhof-Kiosk. «Ich machte das mit Leidenschaft. Wenn sich jeweils scharenweise Menschen um den Kiosk drängten, war ich glücklich. Am Abend wusste ich oft nicht mehr, welche Muttersprache ich hatte. Ich hörte Spanisch, Englisch, Italienisch, Portugiesisch, sprach selber ein paar Brocken.»

Diesen Rummel mitten im Leben hat Verena Baumgartner schon lange gegen ein beschaulicheres Leben eingetauscht. Sie vermisst nichts. «Ich bin gerne allein und geniesse es, meine Tage nach Lust und Laune zu verbringen.» Am Donnerstagmittag geht sie oft ins Vicino im Himmelrich, um eine Suppe zu essen. Engere Freundschaften haben sich noch nicht ergeben. «Es gibt halt Frauen und Frauen», meint sie trocken. «Und manchmal ist es mir einfach etwas zu langweilig.» Früher besuchte sie mit ihrem Mann regelmässig das Theater. «Wir hatten von Anfang an ein Abo. Erst letztes Jahr habe ich es abgegeben. » Immer mal wieder versuchte sie, Kolleginnen zu motivieren, mit ihr ins Theater zu gehen. «Eigentlich waren sie interessiert, aber dann hatten sie doch keine Zeit. Es war einfach immer etwas kompliziert. So ist es mir verleidet. Da bin ich lieber alleine.»

Farbige Strümpfe und dunkelgrüne Nägel
Im Alltag wird Verena Baumgartner von einer Haushalthilfe unterstützt, die beim Aufräumen und Reinigen Hand anlegt. Sie schmunzelt. «Ich sehe alles, was sie gemacht oder eben nicht gemacht hat.» Jeden Tag kommt die Spitex vorbei und hilft ihr, die Kompressionsstrümpfe zu wechseln. Auch hier legt sie Wert auf einen eigenen Stil. «Ich trage farbige Strümpfe und nicht diese weissen oder beigen, wie sie alle haben.» Ihre Nägel hat sie elegant dunkelgrün gestrichen, ein auffälliger Ring ziert ihre Finger. Sie trägt eine dezent gemusterte Bluse mit einem gelben Foulard. Je nach Laune setzt sie sich gerne einen Hut auf, wenn sie aus der Wohnung geht.

Manchmal müsse sie sich aufraffen, um nach draussen zu gehen, gesteht sie. «Vor allem bei schlechtem Wetter.» Ihre Tochter, mit der sie täglich telefoniert, ermahne sie, regelmässig einen kleinen Spaziergang zu machen. «Meistens gehorche ich ihr», sagt sie und lächelt. Lesen und Stricken gehören zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Jedes Jahr, meistens um die Weihnachtszeit, bringt sie einen Sack voll frisch gestrickter Socken in die Gassechuchi. «Alle freuen sich, wenn ich mit den Socken komme, und auch mir macht es Freude. »

Liebesromane sind ihr Süssholz
Auf dem Tisch liegt ein dickes Taschenbuch. «Ein Krimi, ganz gruusig», kommentiert sie. «Viele Leichen, viel Blut.» Ihr sei das recht, sagt sie. «Je mehr, desto besser.» Aber sie lese auch gerne Liebesromane. Neue Lektüre findet sie im Bücherschrank im Helvetiagärtli. Manchmal bringe ihre Tochter neues Süssholz vorbei. Süssholz? «Eben, Liebesromane.» An warmen Tagen spaziert sie gerne mit dem Rollator in den kleinen Park beim Himmelrich. Dort setzt sie sich auf ein Bänkli, eingedeckt mit einer Lismete, einem Buch und etwas zum Trinken. «Da fühle ich mich wohl. Oft schaue ich den Kindern zu, die sich dort aufhalten.» Sie staune, was die für Ideen hätten, wie sie miteinander spielten. «Die Kinder geraten nie aneinander. Das verwundert mich sehr.»

Es sind die kleinen Ereignisse ihres Alltags, denen Verena Baumgartners Aufmerksamkeit gilt. Vieles aus dem früheren Leben scheint nicht der Rede wert zu sein. Erst mit Nachfragen erfährt man, dass sie viel gereist ist. Mit ihrem Mann war sie in China, als das noch eine wenig besuchte Destination war. Bedauert sie, dass vieles nicht mehr möglich ist, was ihr früher Freude und Abwechslung bot? «Ach», sagt sie, «warum soll ich mir deswegen graue Haare wachsen lassen?» Klar würde sie gerne nochmals Paris sehen. Sie winkt ab. «Soll ich dem nachtrauern? Nein, das bringt gar nichts.» Verena Baumgartner arrangiert sich mit der Situation, wie sie ist. «Ich hatte Freude an den Reisen, an den Begegnungen. Natürlich habe ich es genossen. Jetzt ist es vorbei. Dafür gibt es anderes, auf das ich mich freuen kann. Ich entdecke jeden Tag wieder etwas Neues.»
 
26. März 2025 – Aus dem Buch «Im hohen Alter»

Das Buch kann gratis beim Empfang im Stadthaus, Hirschengraben 17, Luzern, oder bei Pro Senectute Kanton Luzern, Maihofstrasse 76, Luzern, bezogen werden.

Alle 24 Porträts können auch als PDF abgerufen werden:
Annalis Amstad-Sicher, Bruno Stämmer-Horst, Berti Felder-Bieri, Pietro Abt, Marietheres Egloff-Felber, Laszlo Kummer, Beatrice Tönz-Osterwader, Markus Giovanoli, Elfi Grendene, Peter Tüfer, Hedwig Degonda, Guerino Luigi Riva, Myrtha Matthey, Raphael Grolimund, Rita Egle-Frey, Adamo Pinarci-Moser, Lily Fischer, Hans Koller-Bühlmann, Rita Maeder-Kempf, Ute Birgi-Knellessen, Josef Fries-Steffen, Verena Baumgartner, Hans «Jonny» Wiprächtiger, Sieglinde Raeber-Sawitzki.