Linguistin Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger
Du.Ihr.Sie.
Von Helen Christen
In SAC-Hütten duzt man sich, unter Genoss:innen duzt man sich, in der Familie duzt man sich. Seit geraumer Zeit aber auch ungefragt in Sportgeschäften, Fitnessstudios, Bars ... Sind wir drauf und dran, zu Gebräuchen aus alten Vorzeiten zurückzukehren, als es ausschliesslich ein «Du» gab? Nein, das Deutsche gönnt sich nach wie vor Alternativen und «Du» hat sich bisher nicht zum alleinigen Allzweck-Anrede-Pronomen gemausert.
Lässt man die Geschichte der deutschen Anredeformen Revue passieren, dann sind bisher ausser «Ich» fast sämtliche Pronomen zum Einsatz gekommen. Nach dem Vorbild des Lateinischen kam gegen Ende des ersten Jahrtausends die zweite Person Plural («Ihr») als Anredeform gegenüber Höhergestellten auf, die ihrerseits «nach unten» mit «Du» quittierten. Spricht man eine Einzelperson statt mit «Du» mit «Ihr» an, so bläht der Plural gewissermassen die Bedeutung der so Angeredeten auf und agiert als verbaler Bückling. Aber: Die Anrede mit «Du» und in etwas geringerem Masse auch jene mit «Ihr» ist ein wenig wie den blutten Zeigfinger auf jemanden richten, ziemlich direkt und unmissverständlich – für Zartbesaitete um ein Quäntchen zu schroff ...
Diesem drohenden Störfaktor kann begegnet werden, indem man Angesprochene wie Dritte behandelt: So kamen im 16. Jahrhundert zusätzlich zu «Ihr» die Anredepronomen (männliches) «Er» und (weibliches) «Sie» (im Singular) auf – wie wir dies heute aus dem Italienischen kennen («Lei»). Aber auch hier gibt es Aufhübschungspotenzial, das die Angeredeten nicht nur wie gewünscht indirekt angeht, sondern gleichzeitig erhöht: Später etablierte sich tatsächlich die Vermehrung von «Er»/«Sie» zu «Sie» im Plural, der heutigen Höflichkeitsform im Hochdeutschen und in den östlichen Schweizer Dialekten (im Westen leistet die «Ihr»-Anrede unbeirrt Widerstand).
Höflichkeit also ist es heute, was mit entsprechenden Pronomen bekundet wird. Einen ständischen Unterschied zwischen Oberen und Unteren – wie früher – sprachlich überdeutlich aufs Tapet zu bringen, ist dagegen in einer mittlerweile demokratischen Gesellschaft überholt. Eigentlich. Im schweizerischen Übergangsgebiet von «Sie» und «Ihr», also beispielsweise im Luzernischen, sind bekanntermassen beide Formen in Gebrauch und hier können noch alte ständische Unterscheidungen vor sich hindümpeln. In dörflichen Habitaten erhalten Nobilitäten und Honoratioren vielleicht ein «Sie», andere Nicht-Geduzte ein «Ihr».
Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich darauf gewettet, dass die «Ihr»-Anrede in der Deutschschweiz auf dem Rückzug sei. Wette verloren. In der Bäckerei, in der Arztpraxis und eben gerade am Postschalter werde ich – immer öfter, wie mir scheint – in der «Sie»-Stadt Luzern mit «Ihr» behelligt. Was ist da bloss los? Ungünstige Lesart: Das «Ihr» ist ständisch gemeint; als ältere Frau mit einer Landmundart und ohne forsches Auftreten habe ich keinerlei Anspruch auf ein «Sie» der Bessergestellten (und ich kann froh sein, zumindest nicht mit «wir» angesprochen zu werden: «Haben wir gut geschlafen?»). Günstige Lesart: Das «Ihr» ist informell gemeint; das hippe «Du» des Austauschs der U-50 hält man in gewissen Fällen denn doch für ein zu grosses Wagnis, «Sie» dagegen für zu distanziert; «Ihr» springt als wohlfeiler Lückenbüsser in die Bresche. Als Clubmitglied von 60+ liegt einem aber wohl die ständische Lesart zuvorderst und entsprechend säuerlich kann die quasi ehrenrührige Anrede aufstossen.
Alten Gewohnheiten nachzutrauern, ist das gute Recht der Angejahrten. Die ebenso komplizierten wie rigiden Regeln, wer wem das «Du» anbieten darf, mögen im diplomatischen Protokoll weiterhin eine Rolle spielen, aber ihnen nachweinen? Keine Träne verdient der bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichende Brauch, seine Eltern mit «Ihr» anzusprechen und damit Respekt über Zuneigung zu stellen. Keine Träne wert ist die abgegangene Gepflogenheit, bei der noch unverbindlichen Braut-/Bräutigamschau (heute: «Dating») auf das «Du» zu verzichten. In einem fast fünfhundert Seiten starken «Lebensberater für Töchter, Frauen und Mütter» nahmen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Leitplanken geziemenden Verhaltens nämlich folgendermassen aus: «Zärtlichkeiten, wie sie nur dem Verlobtenstande zukommen, haben [...] zu unterbleiben. Ebenso soll in der Anrede das «Sie» noch nicht durch das «Du» ersetzt werden» (Hoppeler, Zürich/Bruxelles o. J.: 142).
Allerdings: Mit einiger Wehmut denke ich daran, wie mir als junger Erwachsener von älteren Frauen und Männern das damals alles andere als selbstverständliche «Du» angeboten wurde. Und dies nicht einfach zwischen Tür und Angel, sondern meist bei Sonntagskleider-Anlässen. Dieses zugebilligte «Du» habe ich dabei stolz – oder naiv – als Eintrittskarte in die Gefilde eines verheissungsvollen sozialen Lebens verbucht.
(Für Judith G., Monika A., Rolf T.)
16. August 2024 – helen.christen@luzern60plus.ch
Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.