Cécile Bühlmann, ehemalige Nationalrätin der Grünen. Bild: Joseph Schmidiger

Ein Drift, der nichts Gutes verheisst

Von Cécile Bühlmann

In letzter Zeit ist es mir ein paar Mal passiert, dass ich mit befreundeten Leuten heftige Auseinandersetzungen oder gar Gesprächsabbrüche wegen dem Ukrainekrieg erlebt habe. Ich halte es schlecht aus, wenn nach einem Jahr brutalstem Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine eine alte Freundin zu mir sagt, dass halt die Nato schon sehr nahe an Russland herankomme und die USA und der Westen den Krieg Putins gegen die Ukraine dadurch provoziert hätten. Dieses Narrativ taucht in linken Kreisen immer mal wieder auf, und es fällt mir schwer, darauf gelassen oder verständnisvoll zu reagieren. Denn wenn doch heute eines klar sein sollte, dann ist es die Tatsache, dass es einen eindeutigen Schuldigen in diesem brutalen imperialistischen Aggressionskrieg gibt, und der heisst Putin.

Das ist auch die Haltung der Mehrheit der Linken. Es gibt nur wenige Stimmen, die unverhohlen für die russische Seite Partei nehmen. Aber es gibt einige, die relativieren. Zu diesen schreibt der ukrainische Autor Volodya Artiukh: «Ich sehe, dass die westliche Linke auch angesichts des ‹Unvorstellbaren› tut, was sie seit jeher am besten kann: Sie untersucht den amerikanischen Neo-Imperialismus und die Expansion der Nato. Doch das reicht nicht mehr, weil es die Welt nicht erklären kann, die aus den Ruinen des Donbas und des Hauptplatzes von Charkiv entsteht. Diese Welt lässt sich durch den Verweis auf Handlungen der USA und entsprechende Gegenreaktionen nicht erschöpfend erfassen. Sie hat ein Eigenleben gewonnen, Europa und die USA sind vielerorts nicht mehr in der Initiative. Ihr forscht den entferntesten Ursachen nach, anstatt die gegenwärtig aufkommenden Tendenzen zur Kenntnis zu nehmen.»

Eine andere Spaltung der Gesellschaft hat in der Corona-Zeit ihren verhängnisvollen Lauf genommen: die Bewegung der Querdenker:innen. Die alte Schulfreundin, der Parteikollege, die antönen, dass sie ihre Freiheit bedroht sehen. Die meisten von uns können wohl von solchen Begegnungen berichten. Wir vermeiden deshalb bestimmte Themen, weil wir wissen, dass sie auf rutschiges Gelände führen könnten.

Libertärer Autoritarismus
Dieser beunruhigenden Entwicklung in unserer Gesellschaft wollte das Basler Soziologenpaar Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey mit einem Forschungsprojekt auf den Grund gehen. Sie haben 1150 Personen aus der deutschen und schweizerischen Querdenkerszene per Fragebogen erfasst, mit mehr als 40 Personen haben sie zusätzlich qualitative Interviews geführt. Die Teilnehmenden an der Studie gehören mehrheitlich der Mittelschicht an und sind besser ausgebildet als der Durchschnitt der Bevölkerung. Sie kommen aus fortschrittlichen und alternativen Milieus, bei vielen zeigt sich ein ausgeprägt spirituelles, esoterisches und anthroposophisches Denken, die Komplementärmedizin spielt eine wichtige Rolle. Sie verorteten sich früher links, entwickelten sich aber innerhalb der Querdenkerbewegung nach rechts.

Sie sehen sich als mutige Bürger:innen, die sich den staatlichen Anmassungen widersetzen. Sie wenden sich ab von all jenen, die ihre Autonomie einschränken, die Regierung, die Wissenschaft, die Medien. Solidarität mit Schwächeren zählt für sie nicht. Restaurantschliessungen, Verbote von Veranstaltungen und Maskenpflicht, Impfungen zum Schutze vulnerabler Bevölkerungsgruppen lehnen sie ab. Die Einschränkungen während der Pandemie empfanden sie als persönliche Kränkung. Dass ihnen jemand etwas verbietet, sie in ihrer persönlichen Freiheit einschränkt, so etwas gab es bisher in ihrem hedonistischen Leben noch nie. Was zählt, ist die eigene Meinung, das eigene Gefühl, die eigene Bedürfnisbefriedigung, die eigene Erfahrung.

Obwohl sie autoritär auftreten, identifizieren sie sich nicht wie «klassische» Autoritäre mit Führerfiguren. Nachtwey/Amlinger nennen das Phänomen «Libertären Autoritarismus». Der libertär-autoritäre Protest richtet sich gegen die spätmoderne Gesellschaft, ausdrücklich im Namen ihrer zentralen Errungenschaften Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Laut Aussage Amligers und Nachtweys begannen die Interviews nicht aggressiv, aber die Kritik der Interviewten eskalierte im Verlaufe der Interviews. Sie konnten den Drift ins Autoritäre quasi in Echtzeit beobachten, bis hin zu Verschwörungstheorien und gewalttätigen Rachefantasien. Die Ergebnisse haben sie letztes Jahr in einem Buch mit dem Titel «Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus» herausgegeben.

Dieser Drift in der Gesellschaft verspricht nichts Gutes für die Zukunft unserer Demokratie, zumal Amlinger und Nachtwey davon ausgehen, dass ein beachtlicher Teil der so Abgedrifteten nicht mehr zurückzuholen sei und in der Welt des libertären Autoritarismus verhaftet bleibt.
 
Gewissheiten in Frage gestellt
Es gibt gewisse Parallelen zwischen der Corona- und der Ukraine-Debatte. Bei beiden kam der stärkste Widerstand aus dem nationalkonservativen Lager. Angereichert durch allerlei verschwörungstheoretische und esoterische Erzählungen wurde er anschlussfähig für Menschen, die sich zuvor dem links-grünen Milieu zugerechnet hatten. Bei der Corona-Debatte waren linke und grüne Parteien jedoch nur am Rande betroffen, es gab wenig Proteste und Parteiaustritte. Bezüglich des Ukraine-Kriegs reicht der Dissens diesmal weiter in linke und grüne Milieus hinein. In diesen Strudel hinein sind auch die Grünen geraten. Ihr Widerstand gegen die Weitergabe von Waffen und das Festhalten an einem überhöhten Neutralitätsbegriff sind zwei Punkte, die intensiv zu reden geben, innerhalb und ausserhalb der Partei.

Als ehemalige grüne Politikerin werde ich deswegen sehr oft und oft auch heftig angegangen. Dabei zähle ich mich zu den 62 Prozent der Grünen-Mitglieder, die laut Umfragen die Haltung der Parteileitung nicht teilen und die Weitergabe der Waffen an die Ukraine unterstützen. Dieser schreckliche Krieg hat alte Gewissheiten auch für mich, die ich an jeder Friedensdemo in den letzten Jahrzehnten teilgenommen habe, massiv in Frage gestellt. Das ist nicht einfach, ich tue das schweren Herzens. Dass Waffen nicht Frieden schaffen, habe ich immer vertreten und ich gebe dieses langfristige Ziel nicht auf. Aber jetzt kann ich diese Position nicht mehr guten Gewissens vertreten. In dieser Situation höre ich auf die gebeutelten Ukrainer:innen mit ihrem dringlichen und verständlichen Wunsch, sich gegen die russische Armee verteidigen zu wollen. Und das geht leider nur mit Waffen.

Keinen Dissens gibt es in der Frage der Kriegsschuld, hier ist die Haltung der Partei eindeutig, da wird nichts relativiert: Es gibt einen klar benennbaren Schuldigen, und der heisst Wladimir Putin.
 
28. März 2023 – cecile.buehlmann@luzern60plus.ch


Zur Person
Cécile Bühlmann ist geboren und aufgewachsen in Sempach. Sie war zuerst als Lehrerin, dann als Beauftragte und Dozentin für Interkulturelle Pädagogik beim Luzerner Bildungsdepartement und an der Pädagogischen Hochschule Luzern tätig. Von 1991-2005 war sie Nationalrätin der Grünen, zwölf Jahre davon Präsidentin der Grünen Fraktion. Von 1995-2007 war sie Vizepräsidentin der damals neu gegründeten Eidg. Kommission gegen Rassismus EKR. Von 2005-2013 leitete sie den cfd, eine feministische Friedensorganisation, die sich für Frauenrechte und für das Empowerment von Frauen stark macht. Von 2006-2018 war sie Stiftungsratspräsidentin von Greenpeace Schweiz. Sie ist seit langem Vizepräsidentin der Gesellschaft Minderheiten Schweiz GMS. Seit 2013 ist sie pensioniert.