«In den vergangenen rund 30 Jahren waren Demokratiethemen für mich prägend»: Adrian Schmid.
«Die Neugier ist die Kraft hinter meinem Wirken»
Adrian Schmid, der grüne Politiker, empfängt im September in Luzern als Geschäftsführer die Weltkonferenz für Direkte Demokratie. Rund 500 Personen aus 90 Nationen sind an diesem Global Forum dabei. Was steckt hinter dem lebenslangen Engagement des 66-jährigen Luzerners?
Von René Regenass (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)
Ich treffe Adrian Schmid in seinem Haus an der Untergütschstrasse 26 am Waldrand. Dort lebt er zusammen mit seiner Partnerin Theres Wyss. Bei der Gründung der Genossenschafts- und Kulturbeiz Widder haben sie sich vor 43 Jahren kennen gelernt. «Das waren noch Zeiten!» – sagen wir beide, nach einem kurzen, auch für mich berührenden Rückblick in den ersten Minuten bei Adrian Schmid zu Hause. Im «Widder» an der Zürichstrasse sind wir uns zuerst begegnet. «Es war die Zeit des Aufbruchs, überall», sagt Adrian. «1980 haben wir die Liegenschaft, nahezu ohne Eigenkapital, gekauft, und 1981 die Beiz eröffnet, eine Woche bevor der Sedel startete.»
Adrian Schmid hat im «Widder» von 1981 bis 1985 fast alles gemacht, gekocht, serviert, geputzt sowie die Liegenschaft verwaltet. «Nach bewegten Jahren ging diese prägende Zeit im Mai 2003 mit dem Verkauf der Liegenschaft zu Ende.» Idealerweise fand sich ein Paar, welches die Beiz als indisches Restaurant übernahm. Heute steht bei uns in der Küche ein Tisch, an dem auch Niklaus Meienberg las. Es war eine intensive Zeit und ein schöner Abschluss: Das vorhandene Genossenschaftsvermögen von 50‘000 Franken konnte später dem Kulturzentrum Neubad geschenkt werden. Für Schmid lebt der «Widder» im Neubad weiter. Nach der Beizen-Zeit arbeitete er von 1986 bis 1991 für die WochenZeitung WoZ in Zürich.
Wieviel hat er verdient damals? «Im 'Widder' 900, bei der WoZ 1900 Franken im Monat für eine 100-Prozent-Stelle. Damit konnte ich nicht leben. Als Redaktor der GSoA-Zeitung verdiente ich in diesen Jahren dazu.»
Das Global Forum in Luzern
Zum aktuellen Thema: Im September findet in Luzern die 10. Weltkonferenz für Direkte Demokratie statt. Adrian Schmid wirkt dort als Projektleiter. Er ist Präsident des Stiftungsrates der Schweizer Demokratie Stiftung. Was hat ihn in diese Bewegung geführt?
«Wenn ich etwas ausholen darf – es sind drei Standbeine, die mein Leben bestimmen: Aktuell geht es um die Weiterentwicklung und die Verteidigung der Demokratie, die weltweit deutlich bedroht ist. Wir sind konfrontiert mit einer beispielslosen Auseinandersetzung zwischen Autokratie und Demokratie, nicht etwa nur in Russland und China, sondern auch in Indien oder in Brasilien. Es sind unglaubliche Gegensätze zur Aufbruchstimmung im Jahr des Mauerfalls in Berlin 1989.
Ich erinnere mich an fünf prägende Ereignisse 1989: da war der erste Rücktritt einer Bundesrätin, Elisabeth Kopp. Die umstrittene Diamantfeier, die Aufdeckung des Fichenskandals, der Mauerfall in Berlin, dem das Auseinanderbrechen der Sowjetunion folgte. Am 29. November resultierten bei der Abstimmung für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik eine Million Ja-Stimmen (35,6 Prozent der Stimmenden). All dies war für mich Teil einer Aufbruchstimmung, der später mit den Balkankriegen eine für mich schmerzliche Erfahrung folgte.»
Wie kam es zur Demokratie-Stiftung? Demokratie gebe den Menschen die Möglichkeit, sich zu artikulieren, sagte Adrian Schmid. Und weiter: «In den vergangenen rund 30 Jahren seit 1989 waren für mich Fragen um die Weiterentwicklung der Demokratie lokal, national und weltweit prägend», sagt Schmid, der selber über ein Dutzend Volksinitiativen initiierte und aktuell die Volksinitiative für den Erhalt der Lindenbäume und eines Servicegebäudes am Bundesplatz für das Café Fédéral unterstützt.
«In diesem ganzen Kontext haben wir 2016 die Schweizer Demokratie Stiftung gegründet.» Adrian Schmid präsidiert diese und verantwortet die Projektleitung des Global Forum on Modern Direct Democracy oder der Weltkonferenz für Direkte Demokratie, die im September in Luzern stattfinden wird. Für das Global Forum gibt es ein lokales Unterstützungskomitee, in dem sechs ehemalige Präsidenten, Präsidentinnen des Grossen Stadtrates mitwirken: Albert Schwarzenbach (Die Mitte), Lisa Zanolla (SVP), Laura Grüter (FDP), Margaretha Reichlin (SP), Andras Özvegyi (GLP) und Adrian Schmid (Grüne).
Der Zivildienst gehört in eine Demokratie
Adrian Schmid engagierte sich aus tiefster Überzeugung in der GSoA, der Gruppe Schweiz ohne Armee. Er war Redaktor der GSoA-Zeitung, mit einem Pensum von 30 Prozent. Am Abstimmungssonntag, 29. November 1989, fragte ihn der Redaktor der Tagesschau, was die Million Ja-Stimmen für eine Schweiz ohne Armee bedeuteten. Dies sei ein deutlicher Auftrag an die Politik, in der Schweiz endlich einen Zivildienst einzuführen, sagte Schmid ins Mikrofon. Zwei Zivildienst-Initiativen waren früher gescheitert. «Das reiht sich alles ein in meine Tätigkeit für die Demokratie», sagt Adrian Schmid.
In Luzern kennt man Adrian Schmid als grünen Politiker. Er war Vizepräsident der Grünen Schweiz, wirkte 17 Jahre im Stadtparlament. Beruflich war Schmid auf Geschäftsleitungsebene beim Luzerner Mieterinnen- und Mieterverband, beim VCS Schweiz, beim Schweizer Heimatschutz tätig. Ist jetzt das Wirkungsfeld bei der Demokratie Stiftung eine Fortsetzung des öffentlichen Engagements?
«Ja, das kann man so sagen. Das zweite wichtige Standbein ist die Ökologie, primär in der Grünen Partei. Das dritte ist der sozialpolitische Kontext. Das alles hat auch mit meiner Ausbildung an der Höheren Fachschule für Soziale Arbeit in Luzern zu tun. Es war eine breitgefächerte Ausbildung, die mir in vielen Lebensbereichen hilfreich war. Ein weiteres gutes Beispiel für die demokratische Mitwirkung ist der Mieterschutz, wo wir immer versuchten, den Schwächeren, dem Mieter, der Mieterin eine Stimme zu geben.»
Eine Kumulation von Risiken
Welches sind die wichtigsten Anliegen von Adrian Schmid heute? «Wir leben in einer Situation, in der die Welt vor massiven Herausforderungen steht. Es ist die eigentliche Kumulation von Risiken, die bedrohlich sind und mich sehr nachdenklich stimmt: Die Pandemie ist nicht ausgestanden, sie ist volkswirtschaftlich nicht bewältigt, gravierende Schuldenberge belasten die Gesellschaften, während wir eigentlich unsere Ressourcen für die Bewältigung der Klimakrise benötigen. Wir erleben die Erstarkung autokratischer, populistischer Systeme, die uns auch im Kontext der Digitalisierung fordern. Und dazu kommt der Krieg in der Ukraine. Ich frage mich, wie wir Menschen dies alles bewältigen können. Meine persönliche Antwort ist mein aktuelles Engagement.»
Die Digitalisierung benachteiligt einen grossen Teil der älteren Menschen. Adrian Schmid: «Wir haben am Global Forum dazu Workshops. Unser Partner AlgorithmWatch analysiert diese Entwicklung. Ein Beispiel: Algorithmen könnten Sozialhilfeempfänger beeinträchtigen. Dazu gibt es nur eine Konsequenz: Algorithmen müssen offengelegt werden. Man muss den Einfluss der grossen Technologiegiganten einschränken können. Die digitale Zukunft ist einer von fünf Schwerpunkten am Global Forum, wo weltweit bekannte Fachleute zum Wort kommen werden. Mein Fazit: Es gibt viele alte Menschen, die sich mit der digitalen Realität sehr gut auskennen, ebenso viele stehen am Berg. Darum braucht es Hilfestellungen. Es muss weiterhin möglich sein, eine Fahrkarte am Schalter zu kaufen. Ich finde es inakzeptabel, bei der Benützung des Bahnhof-WCs nicht mehr mit Bargeld zahlen zu können.»
Demokratie bringt Instrumente der Mitwirkung
Adrian Schmid möchte unter dem Demokratiebegriff auch auf lokaler Ebene einen Beitrag leisten, für eine Stadt, für Luzern im Dialog. Wir müssten unterschiedliche Menschen zusammenbringen, sagt er. Am Global Forum nehmen um die 500 Personen aus 90 Nationen teil. «Wir wollen diesen Leuten auch zeigen, dass es in der Demokratie Instrumente der Mitwirkung gibt. Zum Beispiel die Abstimmung am 25. September über die Rentenalter-Erhöhung für Frauen. Auf kantonaler Ebene stimmen wir am gleichen Tag über einen Beitrag für die Kaserne der Schweizer Gardisten in Rom ab. Und in der Stadt entscheiden wir über das konstruktive Referendum zur Klimastrategie.»
Die Idee zum konstruktiven Referendum geht übrigens weit zurück auf eine Motion von Adrian Schmid von der Grünen Partei, die damals von der FDP und CVP bekämpft wurde. Das aktuelle Referendum ergriffen haben jedoch FDP und Mitte. Schmid: «Ich finde es ein demokratisches Selbstverständnis, dass eine Minderheit dieses weiterentwickelte Referendumsrecht beansprucht. Es ist sinnvoll wie notwendig, den Menschen ein Instrument in die Hand zu geben, mit dem sie sich artikulieren können.»
Ein anderes Beispiel hat am andern Ende der Welt stattgefunden. 2003 wurden Demokratie-Experten wie Schmid dem Präsidenten von Taiwan vorgestellt. Taiwan suchte Wege, um die Demokratie zu entwickeln. In den folgenden Jahren schuf Taiwan eine Verfassungsgrundlage für Volksabstimmungen. 2019 fand die erste über gleichgeschlechtliche Beziehungen statt. «Das war für mich eine berührende Situation nach 16 Jahren Arbeit für die Demokratie», sagt Adrian Schmid. Taiwan war früher ein autoritäres Land mit einer rechtsnationalistischen Regierung.
Auch in der Ukraine hat die Schweizer Demokratie Stiftung mitgewirkt. «Nach 2014, der Maidan-Revolution, haben wir die Regierung und das Parlament beraten, Gesetzentwürfe begleitet, zu Verfassungsgrundlagen Stellung bezogen. So machte die Ukraine erste Schritte zu einem demokratischen Land, diametral anders, als Putin es heute demonstriert.» Ende Juni war Adrian Schmid an die Ukraine-Konferenz in Lugano eingeladen.
«Die Rockmusik hat mich geprägt»
Hat es in ganz jungen Jahren irgendwelche Impulse oder Erlebnisse gegeben, die Adrian Schmid geprägt haben, die am Anfang des Demokratie-Gedankens stehen? «Die Rock- und Bluesmusik hat mich geprägt, ganz klar. Ich stand auf die Beatles, mein Freund auf die Rolling Stones. Das gab im Elternhaus intensive Auseinandersetzung. In der Bäckerei an der Zürichstrasse sassen Eltern und Grosseltern am gleichen Tisch wie der Oberbäcker, die Bäcker, der Konditor und die Lehrlinge. Ich erlebte da eine intakte Familie in einem spannenden Umfeld. Zum gleichen Zeitpunkt sind über die neue Musik auch Brüche sichtbar geworden.»
Adrian Schmid ist ein Maihöfler, wie es so heisst im alten Luzern. Kindergarten, sechs Jahre Primarschule von 1963 bis 1969. «Ich erinnere mich an eine Demo, an der wir Dubcek und Svoboda riefen, ohne zu wissen, was die Namen bedeuteten.»
Wo nimmt Adrian Schmid die Kraft her für sein breites, öffentliches Wirken. «Es ist die stete Neugier und Dankbarkeit. Ich habe die Neugier in der Abdankung für meinen kürzlich verstorbenen Vater gewürdigt. Wir hatten in der Kindheit einen Wohnwagen, die Eltern im Wohnwagen, meine Schwester und ich schliefen im Zelt. Die Reisen führten uns damals oft ins frühere Jugoslawien, nach Slowenien und Kroatien. Das war spannend, die fremden Leute, das andere Essen und die sozialen Gegensätze. Neugierig brach ich 1978 ab Casino Luzern per Autostopp nach Indien, via Afghanistan auf. Auf den Spuren der so geschätzten Reise-Autorinnen und Autoren wie Ella Maillart, Nicolas Bouvier oder Annemarie Schwarzenbach. Ich reiste mit dem Zug nach Japan, über Sibirien. Das alles war prägend und ist heute mit Dankbarkeit verbunden. Denn die Neugier führt zu Überlegungen. Kann man dies oder das ändern, besser machen? Im Interesse der Menschen.»
Weitere Informationen zum Global Forum
19. August 2022 – rene.regenass@luzern60plus.ch