Jurist Hans Stricker rät Kunstschaffenden, einen Vorlass zu machen. Bild: Joseph Schmidiger
Die Kunst, Kunst weiterleben zu lassen
Viele ältere Kunstschaffende, deren Werk bis in die 1950er- und 1960er-Jahre zurückreicht, stehen heute vor der oft schmerzlichen Frage, was nach ihrem Ableben mit dem Werk geschieht, das sich oft sehr umfangreich im Atelier und in Lagerräumen angesammelt hat.
Interview Beat Bieri
Hans Stricker, kunstengagierter und -vermittelnder Jurist, berät zusammen mit der Kunsthistorikerin und Kuratorin Bettina Staub im Auftrag von Visarte Zentralschweiz* Kunstschaffende im Umgang mit ihrer künstlerischen Hinterlassenschaft. Dabei stehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Verfügung: ein Vor- oder ein Nachlass.
Was ist der Unterschied zwischen einem Vor- und einem Nachlass?
Hans Stricker: Mit einem Vorlass regelt die Künstlerin ihre künstlerische Hinterlassenschaft zu Lebzeiten, beim Nachlass erfolgt die Umsetzung erst nach dem Ableben. In beiden Fällen reduziert und priorisiert die Künstlerin das künstlerische Lebenswerk selbst oder mit Hilfe Dritter und sie bestimmt die Empfängerin. Dies können Verwandte, Privatpersonen, Museen oder Sammlungen von Gemeinwesen sein. Vor- und Nachlass, wie ich die Begriffe in diesem Zusammenhang verwende, setzen ein aktives, selbstbestimmtes Handeln der Künstlerin voraus. Die Künstlerin muss sich Gedanken machen, wie sie als Person und wie ihr Schaffen der Nachwelt übergeben werden kann. Ein anderes Vorgehen ist es, wenn die Künstlerin unter dem Motto «Nach mir die Sintflut» ihr künstlerisches Lebenswerk unbearbeitet der Nachkommenschaft überlässt. Falls die Künstlerin kein Interesse an einem «Weiterleben oder -wirken» ihres künstlerischen Lebenswerkes hat, müsste sie eigentlich konsequenterweise noch zu Lebzeiten ihr Werk zerstören.
Sie empfehlen Kunstschaffenden, einen Vorlass zu machen. Warum?
Ja, bei einem Vorlass muss sich die Künstlerin selbst Gedanken machen, ob und wie sie ihr Schaffen der Nachwelt übergeben will. Sie kann am besten, aber auch am subjektivsten bestimmen, welche Werkgruppen erhalten werden sollen. Als Alternative könnte sie auch eine Aussensicht durch eine Fachperson einholen. Nebst einer Inventarisierung im Sinne einer Konzentration sind auch Überlegungen notwendig, wo das Werk positioniert werden soll oder kann, was eher der schwierigere Teil der Arbeit ist. Die Künstlerin übernimmt selbst Verantwortung für das Weiterbestehen ihres künstlerischen Werkes und übergibt diese Verantwortung und viel Arbeit nicht den Nachkommen.
Kann das mental auch schwierig sein, denn bei der Organisation eines Vorlasses beschäftigt man sich zwangsläufig mit dem eigenen Ableben? Und man muss sich oft von seinem Werk – oder zumindest Teilen davon – trennen?
Es gibt Kunstschaffende für die die künstlerische Arbeit und der kreative Prozess, solange die Gesundheit es erlaubt, im Vordergrund stehen. Das fertige Werk ist zweitrangig. Im Gegensatz zu andern Berufsgattungen hat die professionelle Kunstschaffende häufig eine überdauernde «Message», die sich im Werk widerspiegelt. Dieser Anspruch bedingt konsequenterweise eine Beschäftigung mit dem eigenen Ableben. Dies kann in mehr oder weniger ausgesprochenen Erwartungen an die Nachkommen münden, sie wüssten ja schon, was sie zu tun hätten. Konsequenter ist es aber, wenn eine erwartete Wirkung des Werkes über den Tod hinaus eigenes Handeln auslöst. Das führt zwangsläufig zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Ableben. Bezüglich Trennen vom eigenen Werk hat der Vorlass den Vorteil, dass er auch in Etappen stattfinden kann. Ein Teil des Werkes wird sofort abgegeben. Vertraglich wird zudem festgehalten, dass zu einem späteren Zeitpunkt oder nach dem Ableben ein weitere Teil oder der Rest folgt. Dieses Vorgehen bedingt, dass der Empfänger damit einverstanden ist.
Naheliegend ist, dass Museen oder Archive Schenkungen entgegennehmen. Wie sieht es diesbezüglich aus?
Das ist das grosse Thema. Die obigen Überlegungen sind nur umsetzbar, wenn eine Institution oder eine Person überhaupt Interesse zeigt, das Werk oder Werkteile zu übernehmen und mit finanziellem Aufwand bereit ist, dieses fachgerecht zu lagern und zu «beleben» mit Ausstellungen und Schriften. Die institutionellen Sammlungen sind – gelinde gesagt – sehr zurückhaltend mit ihrem Interesse, wenn der Kunstschaffende nicht gerade Giacometti heisst. Eine breite Archivierung und Betreuung von professionellem zeitgenössischem Kunstgut aus der Zentralschweiz fehlen weitgehend. Selbst das Kunstmuseum Luzern, das eigentlich eine zentrale Anlaufstelle wäre, ist zurückhaltend. Als Begründung werden mangelnde Finanzen und fehlender Platz ins Feld geführt. In der Tat ist es so, dass eine professionelle Lagerung und Betreuung neben Interesse auch finanzielle Mittel benötigen. Zudem bleibt festzuhalten, dass das Archivieren des professionellen Kunstschaffens der Zentralschweiz ein breites Abbild verschiedenster bekannter und weniger bekannter Künstlerinnen sein sollte. Bei Kunstschaffenden, die es sich finanziell im Alter leisten können, gehe ich im übrigen davon aus, dass interessierte, institutionelle Sammlungen die besten Werke und erst noch unentgeltlich erhalten sollen. Ihr «Entgelt» ist, dass sie die Werke professionell lagern, in eigenen Ausstellungen präsentieren und ausleihen für externe Ausstellungen. Ein künstlerisches Lebenswerk über den Tod hinaus macht nur Sinn, wenn künftige Interessierte wie Kuratorinnen und Kuratoren davon auch Kenntnis erhalten können.
Falls Museen oder Archive nicht in Frage kommen: Welche anderen Möglichkeiten bieten sich an?
Es gibt ja auch noch professionelle Kunstverkäufer, insbesondere Auktionshäuser. Aber auch diese sind an eher hochpreisigen Werken von Kunstschaffenden mit einem Bekanntheitsgrad und einer potenziellen Käuferschaft interessiert. Alle professionellen Kunstschaffenden haben zu Lebzeiten ein Netzwerk, einen «Fanclub» aufgebaut. Das sind Personen, die bereits Werke von ihnen besitzen. Diese wären vielleicht bereit, weitere Werke zu übernehmen. Solche Werkgruppen werden später im besten Fall irgendwo in der Welt weitergeben. Ein Künstler hat eine sehr spezielle Vorgehensweise gewählt: Er gab eine Werkgruppe im Brockenhaus ab in der Hoffnung, dass diese Werke ein neues interessiertes Publikum finden.
Um einen Vor- oder auch Nachlass richtig zu organisieren, ist eine Inventarisierung des Werks notwendig. Was ist dabei zu beachten?
Zuerst sollten zwei Fragen beantwortet werden: Erstens, welche Vorstellungen hat die Kunstschaffende über die Wichtigkeit des Weiterbestehens ihres Lebenswerkes nach ihrem Tode und zweitens, wer kommt in Frage, das Lebenswerk nach ihrem Ableben in ihrem Sinne zu betreuen. Erst gestützt auf die Antworten auf diese beiden Fragen macht es Sinn, das aufwändige Vorhaben einer Inventarisierung an die Hand zu nehmen.
Für Erben kann es bei einem Nachlass zu einer unangenehmen finanziellen Überraschung, vielleicht sogar zu einer Überforderung kommen. Wie kann dem vorgebeugt werden?
War die kunstschaffende Verstorbene zu Lebzeiten nicht so fleissig im Steuernzahlen, besteht die Gefahr, dass die Erben Nachsteuer bezahlen müssen. Ein Vorlass kommt einer Schenkung zu Lebzeiten gleich. Da professionelle Kunstschaffende als Selbständigerwerbende gelten, ist zu klären, ob eine Schenkung einen steuerbaren Gewinn auf Seiten der Künstlerin auslöst. Häufig müssen die Erben nebst dem künstlerischen Nachlass auch ein Atelier mit den entsprechenden Mietkosten übernehmen. Generell sind für die Lagerung und Betreuung eines künstlerischen Lebenswerkes finanzielle Mittel notwendig: Kosten für Lagermiete, für Versicherungen, für Inventarisierung, für Ausstellungen und allenfalls Kataloge usw.
Als Kunstnetzwerker kennen Sie die Ateliers von Zentralschweizer Kunstschaffenden wie kaum jemand sonst. Was treffen Sie da an?
Ich erlebe das ganze Spektrum: Kunstschaffende, die immer weiter arbeiten wollen, ohne Rücksicht auf ihr bisheriges Werk. Oder Kunstschaffende, die rechtzeitig bewusst Zeit und Mittel investieren, um ihr Lebenswerk reduzierend zu ordnen und selbst eine Lösung für die Zeit nach ihrem Tod zu finden. Es gibt auch Kunstschaffende, die das Ordnen ihres Lebenswerkes zu einem eigenen Projekt erklären und daraus etwas Neues entstehen lassen. Zudem ist die familiäre Situation sehr entscheidend. Gibt es Nachkommen, die aktiv interessiert sind am Lebenswerk ihrer Mutter oder ihres Vaters? Zusammenfassend steht fest, dass der Umgang mit einem Vor- oder Nachlass abhängt von der Qualität des Werkes, vom Renommee der Kunstschaffenden, der finanziellen Situation, des familiären Umfeldes und des Interesses allfälliger Empfänger in einem bestimmten Zeitpunkt.
* Visarte ist der Berufsverband der visuell schaffenden Künstler:innen, Architekt:innen und Kurator:innen.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
Teil 1: Fit für die nächsten 1000 Jahre
26. März 2024 – beat.bieri@luzern60plus.ch