Kolumnistin und Linguistin Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger

Die Kühlschrank-Frage

Von Helen Christen

Sie bleiben hängen, sie krallen sich fest: Die Fragen, die Max Frisch in seinem Tagebuch 1966-1971 in verschiedenen thematisch gruppierten Fragebogen stellt (Frankfurt a. M. 1972). Es sind existenzielle Fragen zu den wirklich wichtigen Dingen. Liebe: «Lieben Sie jemand?» «Und woraus schliessen Sie das?» Freundschaft: «Halten Sie sich für einen guten Freund?» Tod: «Wenn Sie gerade keine Angst haben vor dem Sterben: Weil Ihnen dieses Leben gerade lästig ist oder weil Sie gerade den Augenblick geniessen?» Hoffnung: «Wenn Sie einen Toten sehen: Welche seiner Hoffnungen kommen Ihnen belanglos vor, die unerfüllten oder die erfüllten?» Eigentum: «Kennen Sie ein freies Land, wo die Reichen nicht in der Minderheit sind, und wie erklären Sie es sich, dass die Mehrheit in solchen Ländern glaubt, sie sei an der Macht?» Und nicht zu vergessen – Humor: «Verändert im Alter sich der Humor?» Die Antworten oder der Versuch von Antworten sind dem Leser, der Leserin anheimgestellt. Frischs Einladung zur Selbstbefragung führt im besten Fall zu Selbsterkenntnis, auch jener, dass Fragen wichtiger sein können als Antworten.

Ganz anders die Fragebogen, die uns in Presseerzeugnissen gegen das Wochenende hin – Achtung: Unterhaltung! – gehäuft zuflattern. Es ist wohl das «Frankfurter Allgemeine Magazin», das im Juli 1999 den Fragebogen-Boom im deutschsprachigen Raum auslöste. Dem damaligen SPD-Bundesminister Franz Müntefering wurde ein Fragebogen vorgelegt, der sich am berühmten «Questionnaire Marcel Proust» orientierte – «Was möchten Sie sein?» – und eine Antwort einforderte: «erfolgreich». Den 436. Fragebogen des Magazins füllt in diesem Januar die Schauspielerin Anna Maria Mühe aus. Die mittlerweile gelifteten Proust-Fragen tragen dem vonstatten gegangenen technischen Fortschritt Rechnung: «Fühlen Sie sich mit oder ohne Auto freier?» («Mit») «Wann haben Sie zuletzt handschriftlich einen Brief verfasst?» («Vor ein paar Wochen habe ich Postkarten ...»).

Was zu Lebzeiten des französischen Schriftstellers Marcel Proust, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, ein Gesellschaftsspiel in den Pariser Salons war und für einen vergnüglichen Abend unter den Habitués sorgen mochte, hat sich zu ständigen Rubriken in Printmedien jeglicher Couleur gemausert, mit denen der in uns schlummernde Alltags-Voyeurismus angefüttert wird: Kaum eine Zeitung, kaum ein Kundenmagazin, kaum eine Verbandszeitschrift, die nicht dem Reiz erliegt, der Leserschaft mit einem wiederkehrenden Fragebogen wechselnde Prominenz als mitteilsame Zirkuspferdchen vorzuführen. Am Donnerstag erlaubt sich die «Weltwoche» die mehr als nur indiskrete Frage «Mit wem hatten Sie das erste Mal Sex?». In der Samstagsausgabe des «Tages-Anzeiger» beantworten wichtige Leute Fragen zum wichtigen Thema Wochenende: «Welchen Ort meiden Sie am Wochenende und weshalb?» Thematisch ausgerichtet ist auch der Fragebogen in der Beilage «Schweiz am Wochenende» zum Verhältnis (Semi-)Prominenter zu Vater oder Mutter mit nicht ganz dezenten Fragen wie: «Was wollen Sie anders machen als Ihr Vater?» Schliesslich springt das «NZZ am Sonntag Magazin» mit seinen wieder etwas proustigeren Fragen auf das Fragebogen-Karussell («Was zu verlieren wäre für Sie am schlimmsten?») und setzt dafür den Titel «Selbstbetrachtungen».

Selbstbetrachtungen? Die Antworten in diesem und anderen Fragebogen lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es die Befragten zumeist nicht so mit der Selbstbetrachtung haben. Die einen wollen witzig und geistreich sein: «Wie möchten Sie sterben?» «Gar nicht.» – «Welches ist Ihre Lieblingsbeschäftigung?» «Schlafen» – «Haben Sie eine gute Beziehung zum Spiegel?» «Seit ich ihn nicht mehr lese schon.» Den anderen scheint vor allem daran gelegen zu sein, sich als besonders aufregende und aparte Persönlichkeit mit einem erlesenen Lebensstil auszugeben. Diesbezüglich sind die Antworten auf die Kühlschrank-Frage – «Was steht bei Ihnen immer im Kühlschrank?» – maximal aufschlussreich. «Veuve Cliquot Rosé», «Hafermilch und Artischocken» oder «Wachteleier, gesalzene irische Butter» geben weder Auskunft darüber, was tatsächlich im Kühlschrank steht (die Realprobe wäre, jede Wette, ernüchternd), noch wer die antwortende Person wirklich ist, sondern vielmehr darüber, wer und wie diese gerne sein möchte. Der Fragebogen kommt höchst gelegen, um sein Ego wirkungsvoll für die mediale Öffentlichkeit zu kuratieren. Er dient nicht wie Frischs Fragenskalpelle zur Selbsterkenntnis, sondern zur Selbstdarstellung. Wir als lesende Gwunderfitze gehen der Inszenierung entweder auf den Leim oder aber wir durchschauen das Spiel und schmunzeln ob dem nur notdürftig kaschierten Jahrmarkt der Eitelkeiten.

«Was steht bei Ihnen immer im Kühlschrank?»
«Milch, Butter, Eier.» (Ach, wie gewöhnlich! Inszeniert?)

13. Februar 2023 – helen.christen@luzern60plus.ch


Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.