Wie alt wollen wir werden?
In einer Kolumne für die Webseite von Luzern60plus erklärte Mario Stübi, er sei Exit beigetreten, denn er wolle sein Leben nicht in einem Heim beenden. „Und wenn ich an den Alltag und die Stimmung in einem heutigen Betagtenzentrum denke, will ich keinesfalls dort enden, sondern dies selbst bestimmt verhindern können und zwar zum Zeitpunkt meiner Wahl. Es ist hoffentlich noch eine Weile nicht so weit, dass ich die Dienste von Exit in Anspruch nehmen muss.“
Lieber sterben statt im Heim enden? Warum, Mario Stübi, diese Absage ans Heim?
Mario Stübi: Ich bin nicht absolut dagegen. Es kann durchaus sinnvoll sein, im Heim den letzten Abschnitt des Lebens zu verbringen. Und ich möchte auch nicht bestreiten, dass sich in vielen Heimen einiges verbessert hat. Trotzdem geht niemand gerne ins Heim, um dort auf den eigenen Tod zu warten. Ich würde dann in einer Gruppe von Gleichaltrigen leben, die alle 70-Jährig oder älter sind...
Cati Hürlimann: ...das Durchschnittsalter im „Rosenberg“ liegt bei 87 Jahren...
Stübi: Sogar! Ich habe vor kurzem zusammen mit meinen Grosseltern eine Grosstante im Heim besucht. Das war ein trister Anblick. Ringsum Rollstühle und eine eher deprimierende Stimmung. Selbst mein Grossvater, immerhin 86 Jahre alt, sagte, um Gotteswillen nein, ich will nie ins Heim gehen.
Hürlimann: Die Aussage hat bei mir einen wunden Punkt getroffen. Heimbashing ist weit verbreitet. Niemand will ins Heim, als ob dort nur Missbrauch betrieben und Leute gequält würden. Natürlich möchte ich selber im Alter auch selbst bestimmt und wenn möglich autonom in meiner eigenen Wohnung leben. Auch gestehe ich jedem Menschen das Recht zu, sein Leben selbst bestimmt zu beenden. Aber dass man sich lieber selber tötet als ins Heim zu gehen - diese Aussage hat mich zutiefst betroffen gemacht. Als ob der Aufenthalt im Heim überhaupt keine Lebensqualität hätte.
Woher kommt das negative Bild vom Heim?
Hürlimann: Wer sagt, er wolle nicht ins Heim, drückt damit vor allem aus, dass er sein Lebensende nicht in Abhängigkeit und schwer krank verbringen möchte. Das kann ich durchaus nachvollziehen. Wenn aber jemand sagt, das Pflegeheim sei ein furchtbarer Ort, wo es sich nicht mehr lohne zu leben, ist das ein Affront. Das empfinde ich als grobe Disqualifizierung aller Personen, die in einem Heim arbeiten und versuchen, Lebensqualität und Lebensfreude zu vermitteln – auch unter erschwerten Bedingungen im letzten Lebensabschnitt.
Wir wollen nicht ins Heim, weil wir Angst haben, unsere Selbstkontrolle zu verlieren?
Stübi: Das kann durchaus sein. Schon als Kind hat man ja schon immer Angst vor dem Heim oder dem Internat. Und im Alter, wenn die körperliche Befindlichkeit dazu zwingen kann, das Leben im Heim zu beschliessen, löst das Abwehr aus. Angesichts der demografischen Veränderungen frage ich mich auch, wie alt ich überhaupt werden möchte? Und müssen wir als Gesellschaft auf eine immer höhere Lebenserwartung setzen – ganz gleich zu welchem Preis? Auch bei der Spitzenmedizin?
Hürlimann: Die Fragen müssen erlaubt sein. Nur befürchte ich, dass der gesellschaftliche Druck aufgrund der steigenden Gesundheitskosten derart wächst, dass den alten Menschen mehr oder weniger direkt nahegelegt wird, der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen. Oder anders gesagt: Wer alt wird, soll fit und gesund und total selbstständig bleiben. andernfalls soll er sich besser gleich selbstbestimmt wegbefördern. Das ist, etwas überspitzt gesagt, ein Szenario, das mir Angst macht. Die grosse mediale Aufmerksamkeit, die das Thema freiwilliger Suizid zurzeit erfährt, besorgt mich, weil sie die Realität verzerrt. 98% der hochbetagten Menschen sterben natürlich. Diese Mehrheit der Menschen zu begleiten, ist unsere Aufgabe.
Exit will die Beihilfe zum Suizid im Alter erleichtern. Wird damit das „Entsorgen“ der Alten gefördert?
Stübi: Die Gefahr besteht, das sehe ich durchaus. Dennoch finde ich den gesellschaftlichen Diskurs über das selbstbestimmte Sterben sehr wichtig; ich selber habe mich bei Exit als Mitglied angemeldet. Wer sterben will, soll das auch tun können. Meine Grossmutter hingegen sagt, wenn es soweit sei, dann sei es soweit. Und das muss auch möglich sein.
Der Alltag im Heim – wie sieht er aus? Wie kann eine Frau, ein Mann hier im Rosenberg so leben, dass er noch Eigenständigkeit oder Autonomie spürt? Worin liegen die Einschränkungen?
Hürlimann: Die erste grosse Einschränkung betrifft den Raum. Die Bewohnerin kommt aus ihrer Wohnung, oft nach einem Spitalaufenthalt, bei dem klar wurde, dass das selbständige Leben aufgrund der körperlichen Einschränkungen nicht mehr möglich ist. Sie kann nur wenig von ihrer früheren Einrichtung ins Heim mitnehmen. Eine weitere Einschränkung betrifft die Tagesstruktur: wir versuchen flexibel auf die Bedürfnisse der Bewohnenden einzugehen, trotzdem gibt es strukturelle Vorgaben wie beispielsweise die Essenszeiten.
Die Cafeteria im Rosenberg schliesst um 17 Uhr. Könnte man diese Zeit etwas hinausschieben?
Hürlimann: Die bediente Cafeteria schliesst um diese Zeit. Der Raum ist jedoch weiterhin offen und beleuchtet. Wer will, kann an einen Tisch sitzen, sich am Getränkeautomaten etwas zum Trinken holen oder lesen.
Kann ich am Abend noch ein Glas Wein trinken in der Cafeteria, wenn ich vom Gesundheitszustand her dazu in der Lage bin?
Hürlimann: Die Mitarbeiterinnen der Cafeteria sind am Abend nicht mehr da. Die Mitarbeitenden der Pflege können ihnen jedoch jederzeit ein Glas Wein in die Eingangshalle oder die Cafeteria bringen oder bewirten sie auf ihrer Abteilung.
Die Zimmerfrage gehört stark zum Autonomiebegriff. Im Rosenberg gibt es noch viele Zweierzimmer. Der Mangel an Einzelzimmern gibt bestimmt Probleme beim Eintritt.
Hürlimann: Die Situation ist nicht einfach. Die neue VIVA Luzern AG hat dies erkannt und wird diese Strukturfrage angehen. Aktuell führt unser Zimmerangebot dazu, dass wir relativ viele befristete Aufenthalte haben. Ein Beispiel: Eine Frau sucht vom Spital aus ein Einzelzimmer im Staffelnhof. Weil keines frei ist, kommt sie vorübergehend in ein Zweierzimmer in den Rosenberg. Sobald der Staffelnhof ein freies Einerzimmer hat, zügelt sie dorthin. Wenn die Menschen wissen, dass ihr Aufenthalt im Zweierzimmer befristet ist, geht es in den meisten Fällen gut.
Mario Stübi, könnten sie sich vorstellen, im Heim in einem Zweierzimmer zu leben?
Stübi: Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Es gab wohl die Zeit der Studenten-WG. Aber seit ein paar Jahren wohne ich allein und schätze das sehr. Die Heimsituation ist weit weg – wenn ein guter Kollege oder eine Kollegin im gleichen Zimmer lebte, könnte ich mir das schon vorstellen.
Das Heim ist für die meisten Bewohner und Bewohnerinnen auch Sterbeort. Dieser Umstand prägt das Bild in der Öffentlichkeit. Gäbe es Möglichkeiten, dieser Belastung etwas entgegen zu setzen?
Hürlimann: Das ist nicht einfach. Als ich vor elf Jahren in den Rosenberg kam, hatte ich vom Alter und Sterben wenig Ahnung. Ich kann, darf und muss mich damit auseinandersetzen. Dafür bin ich sehr dankbar. Der Tod und das Sterben ist für mich zu etwas Vertrautem und Natürlichem geworden. Leben ist sterben. Und Sterben ist Leben.
Wie häufig wird gestorben im Rosenberg?
Hürlimann: Wir haben zwischen 60 und 80 Todesfälle pro Jahr.
Wie kommunizieren sie das Sterben im Heim? Und wie und wo verlässt der Sarg mit dem Verstorbenen das Heim? Unten im Keller oder über den Haupteingang?
Hürlimann: Das ist ein grosses Thema im Rahmen der Palliative Care. Den Tod einer Heimbewohnerin kommunizieren wir im Heim mit einer internen Todesanzeige im öffentlichen Raum und auf der Abteilung der verstorbenen Person. Der verstorbene Mensch bleibt so lange in seinem Zimmer, bis sich alle Angehörigen von ihm haben verabschieden können. Wenn die Bestatter die verstorbene Person eingesargt haben, wird der Sarg mit dem Toten per Auto über die Garage weggeführt.
Warum wird der Sarg nicht über den Haupteingang hinaus getragen, sichtbar für alle? Vielleicht wäre es auf diese Art möglich, dem Sterben als Teil jedes Lebenslaufes etwas Normalität zurückzugeben?
Hürlimann: Ich weiss von Heimen, wo sich Mitarbeitende, Mitbewohner und Leitung beim Hauseingang versammeln und der verstobenen Person das letzte Geleit geben. Das ist ein schönes Abschiedsritual, wenn es sich würdig realisieren lässt. Für den Rosenberg kann ich mir dies aufgrund der Betriebsamkeit im Eingangsbereich nicht vorstellen.
Mario Stübi: Die Häufigkeit des Todes im Heim führt bei einem öffentlichen Abschied zu einer regelmässigen Konfrontation mit dem Sterben. Aus der Sicht der Bewohner kann ich mir vorstellen, dass dies zur Belastung wird. Doch die Thematik unseres Umgangs mit dem Tod besteht.
Themenwechsel, zum Pflegepersonal: Vor allem in der Langzeitpflege treffen verschiedenste Kulturen und Sprachen aufeinander. Das wirkt sich aus auf die Kontakte untereinander und mit den Heimbewohnern. Wie kommen sie im Rosenberg zu recht damit?
Hürlimann: Im Rosenberg arbeiten ganz unterschiedliche Menschen bezüglich Alter, Ausbildung, Geschlecht und Herkunft. Diese Verschiedenartigkeit der Mitarbeitenden erachte ich als grosse Chance für die Bewohnenden; auch diese sind nämlich sehr verschieden. Wir erwarten, dass unsere Mitarbeiter die Herkunft und die Traditionen der Bewohnenden kennen und respektieren. Zum Beispiel muss eine Muslimin die spirituellen Bedürfnisse einer christlichen Frau nicht selber befriedigen. Sie muss diese jedoch erkennen, ernst nehmen und für geeignete Massnahmen sorgen.
Mario Stübi, wo finden Sie sich in dieser Umgebung?
Stübi: Meine Mutter arbeitet seit 25 Jahren in verschiedenen Institutionen der Alterspflege. Ich hoffe, dass ich dereinst keine Probleme habe, wenn mich eine Muslimin pflegt. Das kann mir ja jetzt schon passieren, wenn ich mit einem gebrochenen Bein ins Spital muss. In diesem Zusammenhang werden andere Fragen wichtig. Zum Beispiel: Wie attraktiv ist der Beruf als Pfleger? Kann der Personalbedarf in der Institution befriedigt und finanziert werden, um den Standard in der Pflege zu erreichen, den wir, den die Politik fordert?
Wie läuft die Personalrekrutierung?
Hürlimann: Die Rekrutierung ist die Hauptaufgabe der Personalverantwortlichen in einem Heim. Das ganze Jahr über, Tag und Nacht müssen genügend und geeignete Mitarbeitende im Einsatz sein. Die Arbeit ist äusserst anspruchsvoll, körperlich und psychisch. Zurzeit herrscht ein grosser Mangel an Pflegefachpersonen. Wir schalten Inserate, arbeiten mit Stellenvermittlern zusammen und bilden Leute aus. Es kommt immer wieder vor, dass keine einzige Bewerbung auf eine ausgeschriebene Stelle eintrifft. Das ist für die betroffenen Teams und die Personalverantwortlichen eine Belastung.
Was heisst das für die Zukunft? Der Pflegenotstand wird ja heute schon kommuniziert.
Hürlimann: Eine Mitarbeiterin, die seit 26 Jahren hier in leitender Stellung wirkt, sagt jeweils bei diesen Prognosen, dass sie noch kein Jahr ohne die Proklamation eines Pflegenotstands erlebt habe. Trotzdem glaube ich, dass die aktuelle Situation alarmierend ist: die demografische Entwicklung geht von immer mehr pflegebedürftigen Menschen in den kommenden Jahren aus. Der Pflegeberuf und die Pflegearbeit werden zu wenig geschätzt und haben teilweise ein schlechtes Image. Gesellschaft und Politik nehmen diese Situation zu wenig ernst.
Weiss die Politik, dass es zwei Monate dauern kann, um eine Pflegestelle zu besetzen?
Stübi: Jene, die es wissen müssten, wollen es vermutlich noch nicht so recht wahr haben. Das Problem ist vielschichtig. Oft sind jene, welche Gesetze machen weit weg von jenen, welche sie umsetzen müssen. Dazu kommen die finanz- und gesellschaftspolitischen Realitäten. Was wollen und können wir uns leisten? Ich vermute auch, dass die Politik recht froh ist, wenn sie sich nicht allzu stark mit diesen Fragen beschäftigen muss. VIVA Luzern zum Beispiel ist ein neues organisatorisches Gebilde. Von den Menschen, die betroffen sind, spricht kaum jemand.
Hürlimann: Ich hoffe sehr, dass die VIVA Luzern den bereits bei HAS eingeschlagenen Weg der verstärkten Ausbildungsbemühungen konsequent weiterführt. Aus meiner Sicht sind qualitativ gute Ausbildungsplätze eine sehr wirksame Massnahme für die Personalrekrutierung. Im Rosenberg bilden wir aktuell 20 junge Menschen für den Pflegeberuf aus.
Wie wird sich das Heim in den nächsten Jahrzehnten entwickeln?
Stübi: Ich wünschte mir Altersinstitutionen, die noch stärker im Quartier verankert sind und den Austausch mit der Nachbarschaft suchen. Damit die betagten Frauen und Männer, auch die Demenzkranken, stärker in der Öffentlichkeit sichtbar sind.
Hürlimann: Wir achten schon heute auf die Verankerung im Quartier. Die Seelsorgenden des MaiHof betreuen die Bewohnenden im Rosenberg. Die wöchentliche Mütter-Väterberatung findet in einem unserer Räume statt. Und nicht zuletzt berücksichtigen wir bei Einkäufen die Detaillisten im Quartier. Ich wünschte mir für die Zukunft eine grössere Durchlässigkeit der Systeme. Der Aufenthalt in einem Heim könnte flexibler gestaltet werden. Sowohl was die Dauer als auch was die Dienstleistungen betrifft. Die Institutionen dürften sich stärker im Quartier verankern und vernetzen. Und sich offensiver als Ort der Begegnung anbieten.
Ist es denkbar, Wohnen mit Dienstleistung zu ermöglichen?
Hürlimann: Für den Rosenberg sehe ich dies eher nicht. Für die Viva Luzern AG ist dies jedoch ein grosses Thema, zumal sie bereits heute in verschiedenen Quartieren der Stadt Wohnen mit Dienstleistungen anbietet.
Wie lässt sich die Skepsis gegenüber dem Heim abbauen?
Hürlimann: Ich weiss nicht, ob das überhaupt möglich ist. Der Heimeintritt wird immer ein kritisches Lebensereignis bleiben. Das wird sich auch in 20 Jahren nicht ändern. Auch dann wird kaum jemand sagen: Super, ich gehe jetzt ins Heim. Was mich mehr beschäftigt ist, ob wir den heutigen, qualitativ guten Standard für alle Menschen, die in der Stadt Luzern Pflege und Betreuung benötigen, halten können.
Stübi: Auch die Angehörigen sind gefordert. Kommen sie einmal im Jahr pro Forma im Heim vorbei oder nehmen sie Anteil am Leben ihrer betagten Eltern?
Hürlimann: Das familiäre Umfeld ist schon heute sehr brüchig. Oft sind ehemalige Nachbarn, alte Freunde oder freiwillig Mitarbeitende die einzigen Bezugspersonen. Es gibt Bewohnerinnen und Bewohner, die von ihren Kindern nicht besucht werden, weil die familiären Beziehungen nach Konflikten abgebrochen wurden. Das ist für alle Beteiligten sehr traurig und schwer.
Stübi: Eigentlich geht es ja nicht einfach um das Heim, sondern um viel grundsätzlichere Fragen: Wie reagieren wir in einer langlebigen Gesellschaft auf die demografischen Veränderungen? Und wie alt wollen wir alle werden? Und unter welchen Bedingungen? Wir wollen alle nicht früh sterben und doch nicht richtig alt werden.
Gesprächsführung: Beat Bühlmann und René Regenass
12. Januar 2015
Die Gesprächspartner:
Cati Hürlimann, 51, leitet seit elf Jahren das Betagtenzentrum Rosenberg (seit 01.01.15 Viva Luzern AG Rosenberg) in Luzern mit 143 Pflegeplätzen, davon 132 im Langzeitbereich, und mit rund 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Cati Hürlimann kommt nicht aus dem Pflegebereich; sie ist ausgebildete Logopädin und Sozialmanagerin MBA
Mario Stübi, 31, hat Kulturwissenschaft studiert und arbeitet in der Unternehmenskommunikation. Er leitet die Kommunikation beim Dachverband Schweizer Jugendparlamente (DSJ). Seit September 2014 gehört Mario Stübi als Mitglied der SP-Fraktion dem städtischen Parlament an.