„Der kulturelle Anspruch gehört zu meiner sozialen Ader“
Im Luzerner Kulturangebot half Gabor Kantor mit, wo er nur konnte. Sein einmaliges Markenzeichen war das Musik-Forum am Mühlenplatz, wo er während fast zehn Jahren die Donnerstag-Konzerte organisierte.
Von René Regenass (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)
Gabor Kantor (76) ist ein kultureller Mensch, vielseitig interessiert und immer bereit anzupacken, wenn er etwas gut findet. Stichworte dazu: Vier Jahre Präsident der IG Kultur, Präsident des Musikzentrums Sedel, im Vorstand der Schüür, Gründer und siebenunddreissig Jahre Leiter des Musik-Forums am Mühlenplatz, Organisator der Donnerstag-Konzerte am gleichen Ort.
„Angefangen hat das Ganze mit dem „Rägeboge“, erzählt Gabor. “Es war in den 70er Jahren, als an der Zürichstrasse im Haus des Architekten Otto Schärli eine Art Kulturzentrum entstand, niederschwellig, mit vielen kleinen Gruppen und engagierten Menschen.“ Ein paar Namen prägen die Erinnerung: Antoinette Gnos, später Mitglied der IG Kultur, Lisa Bachmann mit Theaterleuten, erste zaghafte Versuche für eine Jazzschule, die OM waren dabei. Dann auch die HALU (Homosexuelle Arbeitsgruppe Luzern). Der „Rägeboge“ entwickelte sich weiter, für Gabor wurde die Musik wichtig.
„Ich wollte Platz schaffen für alle, auch für die Kleinen in der Kultur“
Frage an Gabor Kantor. Woher kommt Ihre Nähe zum kulturellen Anspruch, speziell zum musikalischen Ausdruck? „Das gehört zu meiner sozialen Ader. Ich wollte Platz schaffen für alle, auch für die Kleinen, für die Anfänger, die ernsthaft etwas auf die Beine stellen wollten. Sie hatten keine Stimme in dieser Stadt, aber sie wirkten mit.“ Gabor erinnert sich an die Aufbruchstimmung in der Stadt, auch an die sehr positive Zeit mit Stadtpräsident Franz Kurzmeyer. Da sei das Grosse in Szene gesetzt worden. Das Kleine jedoch brauchte auch Unterstützung, um sich entwickeln zu können.
Hat diese soziale Ader, wie es Gabor nennt, mit seinen ersten kulturellen Versuchen zu tun? Mit zehn Jahren hatte er in Ungarn schon Klavierunterricht. Seine Mutter fand, er sei musikalisch veranlagt. Doch nach der Flucht der Familie aus Ungarn in die Schweiz im Jahre 1956 war zuerst anderes wichtig. Gabor war damals 12 Jahre alt. „Mit etwa 15 Jahren bastelte ich mir mit einer Zigarrenschachtel und gespannten Gummifäden ein Instrument. An Weihnachten dann erhielt ich deshalb eine Mandoline als Geschenk. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ein Jahr später gab es eine Gitarre. Das war schon besser. Und so fing es eigentlich an. Jahre später kaufte ich mir einen elektrischen Bass, spielte dann in Bands, unter anderem auch mit Christy Doran. Es war eine musikalische Entwicklung, ich spielte einfach alles was gerade kam.“
Den Bass in der Kehrichtverbrennung entsorgt
Jahre später. Gabor Kantor war dreissig, als er 1974 das Musik-Forum eröffnete. „Damals gab ich das Musizieren auf. Ich war zu wenig fleissig und konnte nicht mehr mithalten.“ Ein schönes Detail: Als sich die vier OM-Musiker im Konservatorium für Weiterbildungskurse auf ihren Instrumenten anmeldeten, wollte Gabor mit seinem Kontrabass dabei sein und meldete sich auch an. Doch auch hier sei er zu wenig fleissig gewesen und habe bald aufgegeben, sagt er heute. „Das war ein uraltes Instrument, das ich geschenkt bekommen habe. An einem Föhntag im Herbst band ich den Bass oben auf meinen Citroen Diane, fuhr in die Kehrrichtverbrennung und warf das Instrument eigenhändig in die Grube. Das gefiel den Arbeitern gar nicht, aber der Bass war weg. Das war das Ende meiner Musikerkarriere. Fortan verkaufte ich Tonträger im Musik-Forum.“
Unvergesslich: Die Donnerstag-Konzerte
Eine Art Glanzleistung als Musikförderer für die Jazzszene waren die Donnerstag-Konzerte im Musik-Forum am Mühlenplatz, die Gabor Kantor ab 2005 während fast zehn Jahren organisierte. Eine gute Stunde am frühen Abend, eine Bereicherung in jeder Hinsicht. Marc Unternährer, der aktuelle Kulturpreisträger der Stadt Luzern, schaffte damals die Kontakte zu den Musikern und Musikerinnen. Im Februar 2014 stieg das Schlussbouquet mit Pedro Lenz. „Pedros Sekretärin versuchte mich abzuwimmeln“, erzählt Gabor. Sie solle ihm sagen, dass ich persönlich angerufen hätte, trug ich ihr auf. Etwas später rief Pedro Lenz und sagte zu.“ Gabor Kantor lebt mit und für die Musik und ist für alle da, die Unterstützung brauchen und suchen, heisst es unter „kultur.lu.ch“.
Gastpreis von Stadt und Kanton
Vor zehn Jahren würdigten Kanton und Stadt Luzern das „unermüdliche Engagement des Kulturveranstalters Gabor Kantor mit einem Gastpreis von 15‘000 Franken. Die Wettbewerbskommission, welche jährlich Werkbeiträge an Kulturschaffende vergibt, kann diesen Gastpreis an Personen mit besonderen Verdiensten vergeben. „Als vielseitiger und uneigennütziger Macher stellt Gabor Kantor eine Art Vaterfigur für die lokale Musikszene dar, welche ihm den Preis von Herzen gönnen wird.“
Was bewegt Gabor Kantor heute im kulturellen Luzern? „Für mich war es eine Zäsur, als ich vor sechs Jahren das Musik-Forum am Mühlenplatz aufgab. Ich hatte etwas aufgegeben und musste mich neu finden. Dabei spielen meine Augen eine wesentliche Rolle. In Räumen, die für andere halbdunkel sind, ist es für mich ganz dunkel. Ich laufe in jeden Stuhl, der da steht. Ich kann nur in Begleitung und eher selten an Anlässe gehen.“
„Die Hülle dominiert kulturelle Anliegen“
Was im Kultursektor geboten werde, verfolge er in den Medien und bilde seine eigene Meinung dazu. Er sei nicht sehr zufrieden, aber seine Meinung sei nicht mehr gefragt. „In Luzern werden kulturelle Anliegen und Probleme nicht beim Inhalt angegangen sondern bei der Hülle, beim Bau. Wir reden um den Theaterneubau. Im Südpol hinten hat jeder Verein einen eigenen Saal: das Luzerner Theater, das Sinfonieorchester, die städtische Musikschule, usw. Jedes Haus hat eine eigene Cafeteria, statt einen grossen Treffpunkt zu schaffen. Dabei geschieht im provisorischen Neubad mit wenig Geld sehr viel Gutes. Heute läuft ein Verteilkampf um Gelder, am Anfang ging es wirklich noch um Inhalte.“ Gabor Kantors Fazit: „Gutes Theater hängt nicht von der Hülle ab. Man kann überall gutes Theater machen. Solange es die Boa gegeben hat, gingen Theaterleute vom Stadttheater gerne dort auf die Bühne. Hier ist nichts, sagten sie. Da können wir selber gestalten.“
Das habe alles auch einen parteipolitischen Hintergrund, sagt Kantor. „In den Parteien geben die Leute von der Wirtschaft den Ton an. Die grossen Firmen spielen ihre Macht aus. Sobald irgendwo etwas gebaut werden kann, wird es gefördert und unterstützt.“ Genau so geschieht es im Strassenbau. Wenn im Kantonsparlament ein Strassenbauvorhaben ansteht, wird es meistens diskussionslos durchgewinkt. Die Baulobby beherrscht die Politik.
Der siebenjährige Jakob ist eine grosse Hilfe
In Gabors Alltag gibt es seit sieben Jahren einen neuen Fixpunkt, einen neuen Stern. „Neben dem Musikhören habe ich den kleinen Jakob. Heute Mittag muss ich ihn in die Russenschule nach Rothenburg bringen, weil seine Mutter Russin ist. Sein Papi (Urban Frye, Freund von Gabor seit vierzig Jahren) kann Jakob heute nicht bringen. Und Mutter Elena arbeitet auch. Jakob und ich kommen wunderbar aus miteinander. Ich hütete ihn schon als Baby. Er konnte noch nicht sitzen, war aber jeden Nachmittag bei mir im Musik-Forum am Mühlenplatz.“ – Der Autor dieses Artikels weiss es noch: Wenn man die steile Treppe zum Laden hinaufstieg, musste man oben zuerst eine kleine Barriere überschreiten, die Gabor gebaut hatte, damit Jakob nicht hinunterfallen konnte. Heute gehört der siebenjährige Jakob irgendwie dazu. Man sieht die beiden ab und zu im Moosmattquartier, Jakob meistens ein paar Meter vor Gabor, aber nie weit weg. Er weiss sehr gut um die Sehschwäche von Gabor, unterstützt ihn, hilft sogar direkt. „Wir unternehmen viel miteinander. Ich bin sozusagen nie überfordert mit dem Kind.“
„Die Ethnomusik spricht mich an“
Gabors Nähe zur Ethno-Musik – das Musik-Forum war eine wahre Fundgrube dafür. Wo kommt das her? „Es ist schon die Art der Musik, die mich anspricht. Und ich lese zum Beispiel fast nur Bücher übers Reisen, keine Romane. Vielleicht spielen auch meine Lebenszentren eine Rolle: die ersten zwölf Jahre in Ungarn, seit 1965 Spanien, seit ein paar Jahren viele Monate in Mallorca, wo meine Schwester lebt. Zudem habe ich in den Anfängen des Musik-Forums festgestellt, dass CDs aus dem Ethnobereich in Luzern kaum erhältlich gewesen sind. Die Chefin von Musik Hug kam einmal vorbei um sich meine Auswahl anzusehen, und sagte, sie schicke jetzt alle Leute zu mir, welche diese Musik suchten.
Einschub: „Heute höre ich zu Hause viel mehr Musik als früher. Folklore und Klassik vorwiegend. Jazz gehört heute nicht mehr zwingend dazu. Was ich heute höre und lese, muss harmonisch sein. Da hat sich einiges verändert. Wenn ich in Radio oder Fernsehen eine Melodie höre, die mich bewegt, suche ich den Tonträger zu bestellen. Ich entdeckte so auch meine Liebe zu alter Musik. In der Sendung „Intermezzo“ am TV höre und sehe ich wunderbare Sachen.
Das aktive Leben mit vielen Begegnungen und Anlässen hat Gabor Kantor hinter sich gelassen. Das hat ganz wesentlich mit seinem heute stark eingeschränkten Sehvermögen zu tun. „Ich bin interessiert und wäre sicher noch aktiver, aber ich muss meine Aktivitäten beschränken auf die Wohnung und auf begleitete Ausgänge. Da spielt der siebenjährige Jakob eine ganze wichtige Rolle. Er weiss um meine schlechten Augen und hilft mir enorm. Wenn er merkt, dass ich unsicher bin, nimmt er mich an der Hand. Das gibt mir grosse Sicherheit. Ein Beispiel: Wir gingen zur Russenschule in Rothenburg. Dort führt eine Treppe ohne Geländer in die Tiefe. Jakob lief voraus. Plötzlich drehte er sich um, kam zu mir zurück und nahm mich an der Hand.“
Eine gepflegte Briefmarkensammlung
Etwas, das sehr gut ins häusliche Leben passt, hat sich Gabor Kantor noch geschaffen. Im Esszimmer liegen Stapel von Briefmarkenalben, eines ist offen auf dem Tisch; es sind alte ungarische Briefmarken. „Ich habe einen Aufruf im Freundeskreis gemacht, dass ich Lust und Zeit hätte, mich wieder mit Briefmarken zu beschäftigen. Ich erhielt Bananenschachteln mit tausenden von Marken aus der Schweiz und anderswo, teilweise gut geordnet und erhalten, aber auch anderes. Die billige Ware scheide ich aus. Ich begann schon in der Primarschule in Reussbühl mit Briefmarken. Während der ganzen Musik-Forum-Periode nahm ich die Sammlung nie in die Hände, keine Zeit, keine Lust, andere Interessen. Heute ist es ein ästhetisches Erlebnis, eine geordnete gute Sammlung zu erstellen und zu präsentieren.“
Stichwort Ungarn. Gabor Kantor ist neben seiner kulturellen Vielfalt auch ein politischer Mensch. Was denkt er über seine erste Heimat? „Ich spreche und schreibe immer noch gut ungarisch. Und der Bezug ist immer noch da. Wegen der politischen Lage diskutiere ich etwa mit den Verwandten und frage, warum sie Orban nicht endlich abwählen würden. Doch Orban strahlt etwas aus, das dem Volk wirtschaftliche Sicherheit verspricht. Die Ungaren und Ungarinnen haben Angst, dass sie mit einer Wahl der linken Opposition diese Sicherheit wieder verlieren würden. Das war ja früher leider mal so. Davon profitiert Orban gewaltig. Er hat alle Zeitungen, alle Radio- und Fernsehstationen aufgekauft. Ich kann die ungarischen Nachrichten am TV nicht hören, weil ich mich über die Propaganda der Regierung masslos aufrege.“
8. Juni 2020 / rene.regenass@luzern60plus.ch