Lina Ritter – eine Pionierin der modernen Sozialarbeit
Text: Marietherese Schwegler Bild: Joseph Schmidiger
Unabhängig sein, auch finanziell. Eine Ausbildung machen, auch wenn das für Mädchen damals nicht üblich war. Nicht so leben wie die Eltern lebten. Aus der kleinbürgerlichen Gesellschaft aussteigen. Nicht heiraten und keine Kinder haben: Lina Ritters Lebenspläne lesen sich wie ein Modell, das manche Frauen zu Zeiten der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren für ihr eigenes Leben vor Augen hatten. Nur hatte Lina solche Ideen mehr als ein Jahrzehnt früher. Und mit ihrer Herkunft aus einem 700-Seelen-Dorf im Solothurnischen war sie auch nicht gerade zur Pionierin berufen. Doch sie hat ihre Vorsätze allesamt umgesetzt.
Mädchen machten keine Lehre
War es die Familie, die ihr Streben nach Unabhängigkeit befördert hat? Lina Ritter, geboren 1936, war die Älteste von fünf Kindern, der Vater Wagner mit eigenem Betrieb, die Mutter Weissnäherin. „Wir hatten nie viel Bargeld, aber arm waren wir nicht. Dank dem grossen Garten konnte die Familie sich teilweise selbst versorgen", erinnert sich Lina. 1952, nach der 3. Klasse Sekundarschule, hat sie bei der USEGO Olten eine Anlehre als Büroangestellte angefangen und acht Jahre lang dort gearbeitet, für 250 Franken im Monat. „In unserem Dorf war damals klar, dass Mädchen keine richtige Lehre machen. Aber meine Motivation war, eigenes Geld zu verdienen. Denn ich wollte nicht so leben wie die Eltern", erklärt sie.
Solche Gedanken hat sie auch dem Blauring zu verdanken, wo sie als Führerin eine junge Frau aus der Bundesleitung kennenlernte. „Der Blauring hat mich herausgeholt aus dieser Gesellschaftsschicht. Auch vom Beruf der Sozialarbeiterin habe ich dort erfahren." Bald war ihr klar, dass sie diese Ausbildung machen will. Die Aufnahme an die Schule für Sozialarbeit Luzern, die in den 1960er-Jahren noch von Menzinger Schwestern und dem Katholischen Frauenbund getragen wurde, war für Lina keine Hürde, nicht zuletzt dank ihrer Erfahrung als Blauringführerin.
Dann kam Amsterdam
Nach zehn Jahren Tätigkeit als Sozialarbeiterin und diversen Fortbildungen hatte Lina sich für eine zweijährige Weiterbildung in Amsterdam entschieden: Systemische Familientherapie und Supervision. Diese Methode war damals fast so revolutionär wie das politische Klima in Amsterdam, und die Ausbildung war konsequent basisdemokratisch organisiert. „Wir konnten stundenlang darüber diskutieren, was wir lernen wollten." Lina lacht. Doch sie weiss, wieviel sie dabei gelernt hat und wie fundiert diese systemtheoretische Familienbehandlung vermittelt wurde, in Theorie und Praxis, mit Sitzungen, die von Dozierenden hinter dem Einwegspiegel kritisch verfolgt wurden.
Von der Studentin zum Mitglied der Schulleitung
Die Amsterdamer Zeit war für Lina Ritter und ihren weiteren Werdegang prägend. Der sollte sie 1974 zurückführen an die Schule für Sozialarbeit Luzern. Aber nun war sie nicht mehr Studentin, sondern Mitglied der Schulleitung, Dozentin und Supervisorin. „Da waren in der Schulleitung teilweise noch die gleichen Frauen wie zu der Zeit, als ich studierte. Das war speziell." Speziell war auch, dass weibliche Mitglieder der Schulleitung keine Hosen tragen sollten und Dozierende und Studierende angehalten waren, sich per Sie anzureden. Schelmisches Lächeln, als Lina erzählt, wie sie gegen solche Regeln bewusst und lustvoll verstossen hat: „Als ich erstmals Klassenbegleiterin war, habe ich meine Jeans angezogen und das Duzen eingeführt." Provokativer Geist seit je oder Nachwirkungen von Amsterdam? Wohl etwas von beidem.
Neben der Schulleitung war Lina Ritter als Familientherapeutin und Supervisorin tätig. Eine wichtige Rolle spielte sie beim Aufbau des Frauenhauses in Luzern. „In den 70er-Jahren engagierten sich bürgerliche Politikerinnen für die Gründung eines Frauenhauses. Sie haben mich damals als Fachfrau zugezogen." Später haben sich auch junge linke Frauen aus dem Kreis der damaligen Ofra beteiligt. „Da habe ich ähnliche basisdemokratische Diskussionen erlebt wie in Amsterdam. Es war schwierig, sich zwischen extrem verschiedenen Ansichten zu bewegen", sagt sie. „Aber das Ziel war, ein Frauenhaus zu gründen. Also mussten wir die Strukturen straffen." Das Projekt wurde schliesslich realisiert. Lina glaubt, dass ihre systemtheoretischen Kenntnisse nützlich waren, um auch innerhalb eines politischen Systems etwas zu erreichen. – Ja, wie hält sie es denn mit der Politik? Politisch ist Lina Ritter in ihrem Denken und war sie in der Berufsarbeit. Aber ein politisches Amt, das hat sie nie gewollt: „Einer Parteilinie zu folgen war für mich nicht vorstellbar!"
Von der Theorie zurück in die Praxis
Zehn Jahre in der Schulleitung und als Dozentin waren genug. Lina Ritter wollte zurück in die Praxis der Sozialarbeit. Die nächsten zehn Jahre war sie Leiterin der Wohngemeinschaft für Mutter und Kind, die alleinstehenden jungen Frauen mit Kindern einen Lebensraum anbot. Lina hat die Frauen begleitet auf dem Weg in ein eigenständiges Leben. Es war ein hoher Anspruch, die meist arbeitslosen Frauen in die Arbeitswelt einzugliedern, sodass sie ohne Sozialhilfe auskamen; aber in manchen Fällen ist es gelungen. Die Wohngemeinschaft musste 1994 aus finanziellen Gründen schliessen.
Und da kam die letzte Etappe in Linas Berufsleben: Eine Stelle in einer geschützten Werkstatt für psychisch behinderte Menschen. „Da habe ich mich vier Jahre dafür eingesetzt, etwas vom grossen Leistungsdruck wegzunehmen, dem diese Menschen ausgesetzt waren. Es ging ganz allgemein um einen menschlicheren Umgang in der Institution."
Als Rentnerin sich selbst verpflichtet
Dann, 1998, war Lina froh, pensioniert zu werden: „Ich habe mein Berufsleben bewusst abgeschlossen, so wie ich früher jeden Berufswechsel bewusst vollzogen habe." Natürlich kamen Anfragen, da und dort an einem Projekt mitzuwirken, sich in der Freiwilligenarbeit zu engagieren. Aber das wollte und will sie nicht. Sie hat klar entschieden: „Kurzfristige Unterstützung von Nachbarinnen ja. Darüber hinaus übernehme ich keine Freiwilligenarbeit." Aus Erfahrung weiss sie, dass sie sonst schnell wieder in einer leitenden Rolle wäre. Hingegen fühlt Lina eine ethische Verpflichtung ihrer Familie gegenüber. In den vergangenen Wochen hat sie sich zum Beispiel um ihre Schwester gekümmert, die im Spital war. Aber auch hier: Klare Abmachungen und eine gesunde Abgrenzung sind ihr wichtig.
Kultur, Bewegung, Krimis
Ihre Tage sind niemals langweilig. Mindestens zwei Stunden täglich ist Bewegung angesagt. Da ist Lina im Quartier unterwegs, am liebsten ganz alleine, dann kann die fitte Frau ihr Tempo und ihren Weg selbst bestimmen. Sozialen Austausch findet sie in der ökumenischen Frauengruppe „Frauen auf dem Weg" im MaiHof, in der Lina seit Jahren mitmacht. Oder im Lesezirkel, einer Gruppe von Frauen, die sich monatlich über Literatur austauschen. Ihre kulturellen Interessen sind breit: Der abendliche TV-Krimi, Museen, Ausstellungen, Konzerte – da gibt es fast zu viel von allem. Dabei beschränkt sich Lina nicht auf Luzern, mit ihrem GA kommt sie in der ganzen Schweiz herum. Dieses hat sie sich übrigens zugelegt, als sie ihren Führerausweis freiwillig abgegeben hat.
Gegen Schluss des Gesprächs erinnert sich Lina an ihren Blauring-Gürtel, den sie als Jugendliche getragen hat. Da habe jemand einen Spruch drauf geschrieben: „So schön und einfach ist das Leben, immer nur geben, immer nur geben." Lina kommentiert trocken: „So viel habe ich gelernt: Nicht immer nur geben, sonst wird man krank. Vieles liegt nicht mehr in meiner Verantwortung." Mit Eigenverantwortung bis zuletzt hat ihr aktuelles Projekt zu tun: Sie will in einem Vorsorgeauftrag festlegen, wer ihre Angelegenheiten regeln soll und wie – für den Fall, dass sie selbst dazu dereinst nicht mehr in der Lage sein sollte.
20. Oktober 2015