Corona-Pandemie in den Luzerner Pflegeheimen (III)
«Die ersten Tage waren für uns alle verstörend»
Die Altersinstitutionen waren von der Corona-Pandemie besonders stark betroffen. Wie gingen die Betroffenen damit um? Davon berichten in einer dreiteiligen Serie eine junge Pflegefachfrau, eine Bewohnerin im privaten Pflegeheim Steinhof sowie nun die Betriebsleiterin eines Betagtenzentrums von Viva Luzern, Doris Fankhauser Vogel.
Von Monika Fischer (Text und Fotos)
Doris Fankhauser Vogel ist seit 2013 Betriebsleiterin des Betagtenzentrums Viva Luzern Wesemlin und Tribschen sowie seit Februar 2020 vom Viva Luzern Staffelnhof. Bei ihrer anspruchsvollen Führungsarbeit steht für sie die Liebe zum Menschen im Zentrum. Offene Informationen und regelmässiger Austausch mit Mitarbeitenden, BewohnerInnen und Angehörigen waren für sie während der Corona-Pandemie besonders wichtig.
Luzern 60plus: Waren Sie von der Corona-Pandemie direkt betroffen?
Doris Fankhauser: Viva Luzern hat immer transparent kommuniziert, verzichtet jedoch aufgrund des Persönlichkeitsschutzes von Bewohnenden auf die Bekanntgabe von Zahlen. Wir hatten im Viva Luzern Wesemlin relativ früh Covid-19-Patienten. Sie wurden sofort isoliert und den klaren Vorschriften entsprechend gut betreut. Das war für alle Beteiligten sehr anspruchsvoll. Ebenfalls die Angehörigen haben wir gut begleitet. Wir haben sie regelmässig angerufen und über die Situation ihres Vaters, ihrer Mutter, informiert. Das haben sie sehr geschätzt.
Wie waren Sie auf die Pandemie vorbereitet?
Wir waren besonders im Wesemlin gut vorbereitet, haben wir doch sehr viel Erfahrung mit dem Noro-Virus. Das ist ja ebenfalls eine Infektionserkrankung. Deshalb hatten wir die Konzepte immer wieder optimiert und angepasst. Zudem hat Viva Luzern sehr früh einen Krisenstab zusammengestellt. Ich stand täglich im Kontakt mit dem Geschäftsführer, Beat Demarmels. Und wir hatten regelmässig Videokonferenzen. Wir hatten auch genug Schutzmaterial an Lager. Viva Luzern organisierte rasch eine Zentralisierung von Beschaffung und Verteilung von Material. Das war sehr hilfreich. Anfänglich fragten wir uns jedoch, ob es mit dem Nachschub von Masken klappen würde. Jetzt sind wir jedoch gut für eine allfällige zweite Welle gerüstet.
«Wir bekamen von den Angehörigen in diesen schwierigen Wochen auch viel Wertschätzung», freut sich Betriebsleiterin Doris Fankhauser.
"Tägliche Rapporte gaben ein Gruppengefühl"
Wie stand es mit der Vorbereitung des Personals?
Das Personal hat viel Noro-Erfahrung. Es ist eigentlich ein Paradox: Niemand möchte den Noro-Virus. Für uns war es nun ein Glück, dass wir ihn häufig hatten. Sofort haben wir tägliche Rapporte unter Einhaltung von Distanz eingeführt. Mit den Tagesverantwortlichen jedes Wohnbereichs besprachen wir die aktuelle Situation. Das gab einerseits Struktur und andererseits ein Gruppengefühl. Eine gute Kommunikation und ein regelmässiger Austausch sind für mich wichtig. Rasch haben wir Schulungen durch die Pflegeexpertinnen durchgeführt. Es gibt bei uns Checklisten. Entscheidend ist, wie sie umgesetzt werden. Das gibt Sicherheit. Zudem hat die Ausbildungsverantwortliche alle Lernenden und PraktikantInnen zusammengenommen und über die Hygiene- und Verhaltensregeln instruiert.
Hatten Sie stets genug Personal?
Es gab nie einen Personalmangel. Wir wurden sehr gut unterstützt von der Geschäftsstelle von Viva Luzern. Sehr schnell wurde ein Personalpool aufgebaut und zusätzliche Leute für Einsätze rekrutiert, Freiwillige mit Berufserfahrung. Auch mit den Spitälern wurde zusammengearbeitet, hatten dort doch Mitarbeitende zum Teil Kurzarbeit. Bei uns haben wir zudem viele HF-Studierende. Genützt hat uns auch der Entscheid des Ausbildungsinstituts Xund, dass Studenten in Betrieben arbeiten konnten.
"Es war hilfreich, unsere Ängste zu thematisieren"
Wie war in den letzten drei Monaten die Stimmung im Haus?
Die ersten Tage waren für uns alle verstörend und angstmachend. Die Bilder aus Italien mit den intubierten Menschen auf Intensivstationen lösten viel Unsicherheit aus. Wir wussten nicht, was auf uns zukommt. Ich fragte mich, was es für uns heissen würde, wenn auch wir so stark betroffen wären. Doch haben wir jeden Tag neu genommen, Schritt für Schritt. Es war hilfreich, dass wir bei den täglichen Rapporten auch unsere Ängste und unsere Unsicherheit thematisiert und über hilfreiche Strategien zur Bewältigung offen gesprochen haben.
Wie haben Sie den Bewohnerinnen und Bewohnern Sicherheit vermittelt?
Auch mit sehr vielen Informationen und mit Austausch. Viele von ihnen kannten ja die Noro-Verhaltensregeln. Das hat vieles vereinfacht. Rückblickend hat unser Personal in den letzten drei Monaten ruhig, konzentriert und professionell gearbeitet. Wohl brauchte es hie und da Interventionen, um gewisse Dinge besser zu organisieren. Zudem kam der Lockdown schrittweise, und wir haben uns entsprechend angepasst. Zuerst mussten wir die mobilen Bewohnerinnen und Bewohner, die jeweils im Saal essen, wegen der Distanzen auseinandernehmen. Als wir dann selber betroffen waren, mussten alle auf den Abteilungen essen. Rasch wurden ein Einkaufsservice auf die Beine gestellt sowie Skype und Facetime installiert. Das war für die BewohnerInnen und für die Angehörigen sehr wertvoll. Besuche der Angehörigen waren für zwei Personen allerdings nur in der Sterbephase mit den nötigen Massnahmen möglich.
"Bewohnerinnen und Bewohner ein Kränzchen winden"
Wie gingen die Bewohnerinnen und Bewohner mit der auferlegten Isolation um?
Logischerweise gab es viele, die unter dem Besuchsverbot gelitten haben. Es ist eine Frage der Persönlichkeit. Wie generell in der Gesellschaft gibt es auch bei uns Menschen, die eine Situation annehmen und integrieren können und das halbvolle Glas sehen, andere sehen eher das halbleere. Entscheidend ist auch, ob sie ein gutes Vertrauensverhältnis zu uns und unserer Arbeit haben. In den letzten Wochen wurde es für unsere Bewohnerinnen und Bewohner allerdings schwieriger. Sie haben Mühe, dass die Schutzmassnahmen für sie im Zuge der Lockerungen immer noch höher sind als für andere Menschen.
Vor allem möchte ich unseren BewohnerInnen ein Kränzchen winden für ihren Umgang mit Corona und den damit verbundenen Einschränkungen. Es ist die Generation, die den Krieg und auch sonst manch Schweres im Leben überstanden und einen reichen Erfahrungsschatz im Rucksack hat. Darauf können die Menschen zurückgreifen. Von den hochaltrigen Menschen können wir viel lernen im Annehmen und Aushalten. Obwohl auch manche Bewohner sehr gelitten haben, hatten die Angehörigen viel mehr Mühe mit der Situation.
Sie kennen bestimmt die öffentlichen Diskussionen, die den Institutionen vorwerfen, die hochbetagten Menschen ungerechtfertigt einzusperren?
Die gesellschaftliche Diskussion beschäftigt mich aus psychosozialer Perspektive stark. Das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Autonomie versus Schutz und Leben in Gemeinschaft ist ein Thema, das mich immer wieder umtreibt. Der Mensch will höchstmöglichen Schutz mit grösster Freiheit, das beisst sich. In der Coronakrise wurde der Gesundheitsschutz höher beurteilt als die Freiheit mit entsprechendem Auftrag an die Pflegeinstitution. Wenn etwas passiert, werden die Verantwortungsträger rasch an den Pranger gestellt, wie sich aktuell in Italien und Spanien zeigt. Ich spürte vor allem gegen Schluss, dass wir als Institution, dass ich als Verantwortliche eine Projektionsfläche war.
«Das Virus zwang uns zu diesen Massnahmen»
Wie gehen Sie mit dieser Situation um?
Ich kann es an einem Beispiel zeigen. Ein Angehöriger warf mir am Telefon vor, ich sei unmenschlich. Ich wies dies klar zurück mit den Worten: «Nicht ich bin unmenschlich. Das Virus ist es, indem es uns zu diesen Massnahmen zwingt.» Gleichzeitig habe ich Verständnis für die Angehörigen in dieser schwierigen Situation. Letztlich ist es eine Auseinandersetzung mit Veränderungen, mit Vergänglichkeit, mit Sterben, Tod, alles verdrängte Tabuthemen. Sie sind immer da, machen jedoch in Krisensituation noch hilfloser. Jedenfalls hatte ich ein gutes Gespräch mit dem Angehörigen, der am Schluss meinte: «Ich verstehe sie auch, doch ist die Situation für mich ganz schwierig.»
Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass mit einem offenen Gespräch viel aufgefangen werden kann. Gibt es dazu wirklich genug Zeit im strengen Berufsalltag?
Ich denke schon. Während der Krise hatten die Aktivierungs-therapeutinnen die Aufgabe, mit den Bewohnerinnen und Bewohnern zu sprechen. Es gab ja keine Gruppenaktivitäten. Auch Freiwillige waren für Gespräche da. Zudem ist ja die Pflege immer mit Beziehung und Gespräch verbunden.
Was würden sie bei einer zweiten Welle besser machen?
Vor kurzem haben wir am Kaderforum vom Austauschbedarf vernommen. Deshalb werden wir hier im Wesemlin zur Be- und Verarbeitung der Coronazeit vier Corona-Talks organisieren zu den Fragen: Wie ist es euch ergangen? Was müssen wir mitnehmen, damit wir gut gerüstet wären für eine zweite Welle oder eine erneute Pandemie? Gerne würde ich auch eine Veranstaltung für die Angehörigen zum Spannungsfeld Freiheit versus Schutz in Pflegeinstitutionen organisieren. Ich möchte betonen, dass wir von den Angehörigen auch viel Wertschätzung und Anerkennung bekommen haben. Die Krise war für uns nicht nur schwierig, wir bekamen auch viel Dankbarkeit.
"Viel Wertschätzung und Anerkennung"
Haben Sie einen Wunsch an die Öffentlichkeit?
Während der Pandemie lag der Fokus auf den Spitälern. Die Langzeitpflege kommt in der Öffentlichkeit in Bezug auf die Wichtigkeit viel zu wenig zum Tragen. Zudem wurde sie skandalisiert auf einen negativen Fokus: zu wenig Schutzmaterial usw. Die Betreuung und Pflege von Menschen am Lebensende ist eine wichtige und hoch komplexe Aufgabe. Deshalb sollte die Langzeitpflege in der Gesellschaft den Raum und die Anerkennung bekommen, die sie verdient. Die Hochaltrigkeit wird verdrängt wegen der fehlenden Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Dies hat sich in der Krise erneut gezeigt. Deshalb wünsche ich mir, dass wir von den Menschen dieser Generation lernen: Mit ihren Ressourcen und ihrer Lebendigkeit haben sie uns viel zu geben. – 26.6.2020
fischerabt@bluewin.ch
*Doris Fankhauser Vogel, 1968, hat nach dem KV die Matura gemacht und auf dem zweiten Bildungsweg Psychologie und Sozialarbeit studiert. Sie hat zudem einen Master in Advanced Studies in Business Administration.