Bildgeschichte 11/2017
Der amerikanische Freund
Von Max Schmid
Gary Wiggs war mir ein wichtiger Freund, doch beim Durchsuchen der Schachteln mit den alten Fotos bin ich auf ein einziges Bild von ihm gestossen: Wir beide im Stil der 70er Jahre vor dem Haus in Luzern, in dem ich aufgewachsen bin. Gary stützt sich auf meinen 2CV. Mit diesem für einen Amerikaner ungewöhnlichen Gefährt waren wir von Rom, wo ich damals lebte, in die Schweiz gereist. Auf dem etwas unscharfen Bild glaube ich, sein verschmitztes Lächeln zu erkennen.
Als wir uns 1970 in der Bretagne kennenlernten, hatte Gary gerade sein Jus-Studium abgeschlossen. Er war fasziniert von „Law und Justice“ und angewidert vom damaligen Präsidenten Nixon. Er liebte Gedichte von T. S. Eliot und protestierte gegen den Krieg in Vietnam.
In Rom war Gary 1975 einer meiner ersten Gäste. Er kam aus den USA mit einer Liste der besten römischen Gelaterie angereist und überraschte mich mit der unverblümten Mitteilung: „I’m gay“ - „Wow, ich auch ....“ Mein Coming-out lag allerdings erst ein paar Monate zurück, seines ein gutes Jahrzehnt.
Im Sommer 1980, besuchte ich Gary in Seattle. Er war inzwischen einer der jüngsten Richter im Staat Washington und lebte in einer WG, die Tabak verpönte, aber Joints rauchte. Seinem Freund aus der Schweiz wollte er unbedingt San Francisco zeigen – die Castro Street voller Regenbogenfahnen, die City Hall, wo Harvey Milk, der erste schwule Stadtrat, kurz zuvor ermordet worden war. Wir fuhren der Westküste entlang dem Gay-Mekka entgegen - mit einem Gefühl von Freiheit, wie ich es so kaum je wieder erlebt habe.
Drei Jahre später – ich hatte eben als Redaktor einen Artikel über die neuartige „Seuche“ verfasst, die angeblich in den USA homosexuelle Männer heimsuchte – schrieb mir Gary: „I’ve got it.“ Danach ging es sehr schnell. Ich habe ihn nie mehr gesehen. Er war tapfer. Sein Glück war, dass ihn sein Partner Michael umsorgte. Gary gehörte zu den ersten Menschen, die in Seattle an Aids starben. Acht Jahre später traf es Michael. Auch er wurde von seinem neuen Partner umsorgt.
Diesen Hinweis fand ich auf Google in einem Buch über Gay Seattle. Dort wird geschildert, wie Lesben und Schwule einander unterstützten, Familienmitglieder ergänzten oder ersetzten, in Hilfsorganisationen Hand in Hand mit Heterosexuellen arbeiteten. Das habe Folgen für ihr öffentliches Bild gehabt. Gays seien auf einmal anders wahrgenommen worden: als Compassionate Citizens, als mitfühlende Mitbürger, heisst es da. Das ist tröstlich zu hören: Es ist ein Erbe, das uns jene hinterlassen haben, die starben wie Gary – mitten im Leben.
3. November 2017
Zur Person
Max Schmid, geboren 1945 in Luzern, arbeitete bis zu seiner Pensionierung bei Radio SRF: als Auslandredaktor und Korrespondent in Prag und Moskau. Zuvor war er Redaktor beim St. Galler Tagblatt und Mittelschullehrer an der Schweizerschule Rom. Er lebt wieder in Luzern.