Heute übernehmen Angehörige einen Grossteil der Betreuung – und morgen?  

Ungleichheit im Alter (3)

Familien sind mit der Betreuung überfordert

Nicht alle können sich im Alter eine gute Betreuung leisten. Doch ohne soziale Netzwerke drohen ältere Frauen und Männer zu vereinsamen und zu verwahrlosen. Braucht es künftig ein Betreuungsgeld?

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Fenster putzen, Augentropfen einträufeln, zum Arzt begleiten, spazieren gehen oder zusammen essen: Wer im Alter möglichst lange selbständig den Alltag bewältigen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben will, braucht psychosoziale Betreuung. Heute sind in der Schweiz 620'000 Personen auf Betreuung angewiesen, doch der Bedarf wird wachsen: Aufgrund der demografischen Entwicklung wird sich der Anteil der 80-jährigen und älteren Personen bis ins Jahr 2050 verdoppeln – von heute 5 auf über 10 Prozent der Wohnbevölkerung.

Rentner zahlen Grossteil der Betreuungskosten 
Doch längst nicht alle können sich diese Betreuung künftig leisten, wie Nora Meuli und Carlo Knöpfel in ihrer Analyse zur Ungleichheit im Alter schreiben.* Es sei zu befürchten, «dass mehr und mehr fragile ältere Menschen mit geringem finanziellem Spielraum und einem wenig tragfähigen sozialen Netzwerk in die Vereinsamung und Verwahrlosung getrieben werden». Damit würde sich die Ungleichheit im Alter noch einmal akzentuieren. «Ein Alt werden in Würde für alle wäre nicht mehr gewährleistet.»

Schon heute sind die Ungleichheiten im Alter ausgeprägt (siehe Links zu den zwei ersten Folgen am Schluss des Artikels). Auch das Vermögen ist bei der älteren Generation höchst ungleich verteilt. Während das mittlere Vermögen der Rentnerpaare im untersten Fünftel 34'500 Franken ausmacht, können die reichsten 20 Prozent der Rentnerpaare im Schnitt auf ein Vermögen von 1'575'500 Franken zurückgreifen. Bei den Alleinstehenden haben die einen praktisch kein Vermögen, die anderen im Schnitt 957'000 Franken. Diese Diskrepanz ist umso gravierender, als Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz pro Jahr rund sieben Milliarden Franken für die Betreuung und Pflege der Spitex sowie für die Hotellerie und Betreuung im Pflegeheim selber aufzubringen haben. Das ist über die Hälfte der Gesamtkosten, in fast allen OECD-Ländern müssen die Rentner maximal 30 Prozent oder deutlich weniger selber zahlen.

Die unbezahlbare Pflege der Angehörigen
Das spüren vor allem Frauen und Männer des Mittelstands. Sie können keine Ergänzungsleistungen beanspruchen und müssen zuerst das Vermögen verzehren. Dieses «Entsparen im Alter» führt dazu, dass der Heimeintritt, auch wenn er sinnvoll wäre, hinausgezögert wird, um nicht das Vermögen und somit das Erbe zu verbrauchen. «Mit der Strategie ‹ambulant vor stationär› setzt der Sozialstaat heute in erster Linie auf die unbezahlte Unterstützung der Angehörigen, ohne diese zu honorieren», konstatieren Meuli und Knöpfel. Heute wenden die Familien schätzungsweise 40 Millionen Stunden für Pflege und Betreuung der Angehörigen auf, die Töchter investieren 34 Stunden pro Woche in Betreuung und Pflege, die Söhne 27 Stunden. Doch viele Angehörigen sind mit diesem Engagement – oft neben der Erwerbsarbeit – zunehmend überfordert. Die Bereitschaft der erwachsenen Kinder, die eigenen Angehörigen in dieser Intensität zu betreuen, schwindet. Zudem gibt es immer mehr kinderlose ältere Menschen, die sich nicht auf ein soziales Netzwerk abstützen können.

Versorgungslücke mit Betreuungsgeld schliessen
Nötig sei deshalb ein Modell, das die Gesellschaft und den Staat stärker in die Pflicht nehme, fordern die Experten. Sie schlagen vor, die bestehende Hilflosenentschädigung zur AHV zu einem Betreuungsgeld auszubauen.


Liechtenstein zahlt ein Betreuungs- und Pflegegeld

Im Fürstentum Liechtenstein können unterstützungsbedürftige Frauen und Männer seit 2020 ein Betreuungs- und Pflegegeld beanspruchen. Unter drei Bedingungen:

  • Anstellung einer Unterstützungsperson, die mit diesem Geld bezahlt wird; das können Profis wie Angehörige ohne spezifische Qualifikation sein.
  • Ein Arzt oder eine Ärztin muss den Unterstützungsbedarf im Alltag von mindestens 60 Minuten täglich gemäss einem Betreuungs- und Pflegekonzept ausweisen.
  • Der Unterstützungsbedarf muss gemäss ärztlichem Gutachten mindestens drei Monate andauern.

Das Betreuungsgeld richtet sich nach dem Unterstützungsbedarf und bewegt sich zwischen 10 und 180 Franken pro Tag. Parallel zu den Pflege- und Betreuungsgeldern zu Hause subventioniert Liechtenstein auch die Pflegeheimtaxen. Bewohnerinnen und Bewohner zahlen maximal 111 Franken pro Tag. Das sind im Jahr 40'515 Franken, das entspricht ungefähr dem jährlichen Einkommen einer alleinstehenden Rentnerin der Mittelschicht. Sie kann somit den Heimaufenthalt zahlen, ohne das eigene Vermögen vollständig aufzehren zu müssen.


Unabhängig von der Wohnform würden Stundenkontingente für Menschen mit Betreuungsbedarf festgelegt und entsprechend entschädigt. Laut einer Studie der Paul Schiller Stiftung besteht eine erhebliche Versorgungslücke. Für den stationären Bereich wird der Mehrbedarf an Betreuung auf 50 bis 70 Minuten pro Tag und betreute Person geschätzt, im ambulanten Bereich auf 8 bis 30 Minuten. Zur Sicherstellung einer guten Betreuung müssten pro Jahr, so eine erste Schätzung, insgesamt 14 bis 28 Millionen Stunden zusätzliche Betreuungszeit von Profis geleistet werden. Die jährlichen Kosten des Mehrbedarfs werden für Kantone und Gemeinden auf 800 bis 1600 Millionen Franken veranschlagt. Denkbar wären für Meuli und Knöpfel die Einführung einer neuen Sozialversicherung oder wie im Fürstentum Liechtenstein eine stärkere staatliche Finanzierung des Angebots. 

7. März 2022 – beat.buehlmann@luzern60plus.ch

Bereits erschienen
Folge 1: Wer arm ist, zahlt über 40 Prozent fürs Wohnen
Folge 2: Gute Betreuung ist im Alter nicht garantiert

*Nora Meuli und Carlo Knöpfel: Ungleichheit im Alter. Eine Analyse der finanziellen Spielräume älterer Menschen in der Schweiz. 220 Seiten, mit zahlreichen Grafiken, 43 Franken. Seismo Verlag Zürich, 2021.

Die Paul Schiller Stiftung setzt sich für eine gute Betreuung im Alter in der Schweiz ein.