Auszeit

Von Judith Stamm

 Ein neunzigjähriger Bekannter, der in einem Juradorf lebt, schrieb mir: «Was bei uns blüht, ist der Garten. So schöne Blumen hatten wir schon lange nicht mehr. Ein Trost in diesem harten Coronaleben».

Ich beobachte anderes. Wenn ich telefoniere, lasse ich meine Blicke aus dem Fenster schweifen. Und immer wieder muss ich mitten im Gespräch mitteilen: «Jetzt sehe ich wieder die beiden Elstern auf dem Dach des Nachbarhauses. Sie schauen in die Welt, sie spazieren umher, sie machen fliegerische Kapriolen».

Lange Jahre wohne ich jetzt schon mitten in der Stadt Luzern. Elstern hatte ich in meiner Umgebung noch nie gesehen. Kürzlich landete eine sogar auf meinem Fenstersims. In aller Ruhe konnte ich sie betrachten.

Von einem Tierpark lese ich, dass sich die Tiere während der Zeit des Lockdowns an den menschenfreien Raum gewöhnt hätten. Die Flamingos seien früher zutraulich gewesen. Jetzt ergriffen sie die Flucht, wenn wieder Besucherinnen und Besucher auftauchten.

Auch aus den zoologischen Gärten können wir erfahren, wie sich das Verhalten der Tiere verändert hat. Ein Trost: den Affen sei es langweilig ohne den Besuch von uns Menschen. Wie soll ich das interpretieren? Es scheint, dass Verwandtschaft verbindet!

Ich fühle mich in meinen Gedanken bestätigt, die ich schon als Kind bei Zoobesuchen hatte. Beim Affenhaus fragte ich mich immer: «was denken die wohl von uns? Gefällt ihnen das, so angegafft zu werden?» Und jetzt lese ich, dass sie sich über uns genau so lustig machen, wie wir uns über sie!

Allerdings habe ich schon lange, lange keinen zoologischen Garten mehr besucht. Tiere aus der Wildnis einzusperren, damit wir sie ansehen können: was soll der Sinn dahinter sein?

Rainer Maria Rilke hat diese Frage in seinem Gedicht: «Der Panther» (1902, Jardin des Plantes, Paris) zu Herzen gehend eingefangen:

 «Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

So müd geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

Und hinter tausend Stäben keine Welt.

 

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein grosser Wille steht.

 

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf - . Dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannter Stille –

und hört im Herzen auf zu sein.»

Menschen, die in den gegenwärtigen Zeiten umstände- etwa altershalber gehalten waren, zuhause zu bleiben, können mit dem Panther mitfühlen. Ich habe gelernt, wie sehr SMS, E-Mails, Telefonate willkommen waren. Aber nichts ging über ein Gespräch mit einem lebendigen Menschen, auch wenn der Abstand zu ihm zwei Meter und mehr betraf.

Das öffentliche Leben setzt sich unterschiedlich zögerlich wieder in Gang. Es erscheint mir wie ein «Erwachen aus dem Winterschlaf».

Aber eines ist klar. Wenn auch der «Schlaf», die Benommenheit, die Antriebslosigkeit vorbei sein werden, der «Winter» ist noch lange nicht überstanden.

Damit meine ich die tragischen Auswirkungen der Corona-Krise auf die Schwächsten der Gesellschaft weltweit. Anschauungsmaterial haben uns die Medien in letzter Zeit genügend geliefert. Ausgestanden, unter allen Gesichtspunkten verarbeitet, ist das alles noch lange nicht.

Das dürfen wir, die wir auf der «Luxusinsel Schweiz» leben, nie vergessen! - 5. Juli 2020

judith.stamm@luzern60plus.ch

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.