Auf dem Balkon ihrer Wohnung im Würzenbach freut sich Lyss Oeschger-Rickenbach auf das Konzert des Aphasiechores Zentralschweiz in der nahen Johanneskirche.

«Mein Leben hat sich auf einen Schlag total verändert»

Sie war 56 Jahre alt und stand mitten im Leben, als sie vor 20 Jahren einen Schlaganfall erlitt. Lyss Oeschger erzählt, wie sie im letzten Moment ins Spital gebracht wurde und kämpfte, bis sie wieder selbständig leben konnte: «Ich musste tief unten durch. Doch hatte ich immer wieder Glück. Heute gehts mir gut, und ich lebe gern.»

Von Monika Fischer (Text und Bild)

Wir lernten uns beim gemeinsamen Singen im Aphasiechor Zentralschweiz kennen. Denn auch ich hatte bei zwei Streifungen eine kurze Aphasie erlitten. Ich wusste, was es bedeutet, sich von einem Moment auf den andern nicht mehr sprachlich ausdrücken zu können.

In den Pausen versorgte ich meine halbseitig gelähmte Singnachbarin jeweils mit Kaffee und Kuchen. Erst nach einiger Zeit wagte ichmich, sie zu fragen, was sie früher beruflich gemacht habe. Der Bann war gebrochen, als ich erfahren hatte, dass wir früher Kolleginnen waren. Gerne folgte ich deshalb ihrer Einladung, sie zuhause zu besuchen.

20 Rosen standen in einer Vase auf dem Tisch. «Meine Schwester hat sie mir gebracht zur Erinnerung an meinen Hirnschlag am 21. Oktober 2004», erzählte Lyss und blickt zurück in ihr Leben. 1948 geboren, war sie mit zwei Schwestern und drei Brüdern in Merlischachen aufgewachsen und hatte die Kantonsschule in Luzern mit der Matura abgeschlossen. Zur Zeit des Lehrermangels wurde sie nach einjähriger Ausbildung Primarlehrerin. Von ihrem Balkon zeigt sie auf das Schulhaus Würzenbach, wo sie unterrichtet hatte.

Nach ihrer Heirat mit dem Kunstmaler Ernesto Oeschger lebte sie einige Jahre in Intragna im Tessin. «Wir brauchten wenig und führten ein einfaches Leben», hält sie fest und berichtet von ihren Malkursen. Als es für sie nicht mehr stimmte, zog sie nach Zürich, wo sie sich in Kursen zur schulischen Heilpädagogin ausbilden liess und die Unterrichtstätigkeit an verschiedenen Schulen aufnahm.

Nichts war mehr wie zuvor
Beim Schlaganfall mit 56 Jahren blieb sie drei Tage in der Wohnung liegen, bis die Schule auf ihr Fehlen aufmerksam wurde. Sie erinnert sich: «Ich konnte nichts bewegen, habe nichts gegessen, nichts getrunken. Und doch hatte ich keine Angst. Ich war nicht mehr ganz da und habe mein Leben übergeben.»

Der Schicksalsschlag hat ihr Leben total verändert. «Nichts war mehr wie zuvor. Es war sehr schwierig.» Nach dem Spitalaufenthalt fand sie in der Reha in Zurzach neuen Lebensmut. Sie war eine Kämpferin und übte eisern, bis sie als Rechtshänderin mit ihrer linken Hand einiges ausüben konnte. Mit grosser Unterstützung konnte sie langsam wieder gehen.

Bis sie eine eigene Wohnung fand, wohnte sie bei ihrer Schwester Anna in Luzern. Mit der linken Hand übte sie am Klavier und nahm sogar Stunden. Bei Eliza in Winterthur lernte sie mit der linken Hand malen. Das Schreiben mit der linken Hand bereitet ihr heute noch Mühe.

Sie schätzt es, heute mit Unterstützung selbständig leben zu können. Dreimal wöchentlich wäscht, bügelt, putzt usw. die Haushilfe und kocht das Essen für zwei Tage. Ebenso oft kommt die Spitex vorbei. Der gute Freund Köbi, der mit Lyss im Lehrerseminar war, und seine Frau Claire unterstützen sie bei der Pflege des Balkons, am PC und bei administrativen Arbeiten, einfach überall dort, wo es nötig ist.

Sie schätzt es, mit dem Elektro-Rollstuhl dem Seeufer entlang zu fahren mit freiwilligen Helferinnen von «Zeitgut». Neben den ehemaligen Kolleginnen hat sie auch neue Bekannte und Freunde gefunden, die sie regelmässig besuchen. Sie probiert, täglich mit Hilfe des Stocks und des Geländers viermal auf dem Balkon hin- und herzugehen und sagt klar, was sie braucht, wie man sie unterstützen kann.

Dies erfahre ich bei der Begleitung ihrer Gänge auf dem Balkon. Sie zeigt, wie ich sie halten kann, damit sie den Stock beim Gehen nicht braucht. Dabei wird mir bewusst, welche Geduld sie aufwenden muss, um den Alltag zu bewältigen, wie sie für jede Tätigkeit sehr viel mehr Zeit aufwenden muss. «Geduld, die mir manchmal fehlt», sagt sie lachend.

Spiritualität und gemeinsames Singen
Es fragt sich, woher sie die Kraft dazu immer wieder nimmt. «Ich war stets auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und las viele spirituelle Bücher, bis ich nicht mehr lesen konnte. Seither höre ich am Radio täglich eine entsprechende Sendung. Es sind ganz gewöhnliche spirituelle Gedanken zum Leben. Letztlich geht es um die Liebe. Darum, allem mit Liebe zu begegnen. Diese Einsicht gibt mir Kraft.»

So macht sich Lyss Oeschger auch keine Sorgen um die Zukunft. Angesichts der Arthrose in ihrer linken Hand fragt sie sich wohl, wie es weitergehen soll. «Ich habe ja nur noch diese eine Hand. Doch kommt es, wie es kommen muss. Ich versuche, in der Gegenwart zu leben und mich an dem zu freuen, was ist.»

Dazu gehört das gemeinsame Singen im Aphasiechor Zentralschweiz. Alle drei Wochen findet im Pfarreizentrum zum Barfüsser, Luzern, eine zweistündige Probe mit dem Musiker Joseph Bachmann statt. In der Gemeinschaft mit Menschen, die Ähnliches erfahren haben, hilft man sich gegenseitig.

Beim Singen von Liedern aus aller Welt geht es nicht um Perfektion, sondern um Lebensfreude. Lyss Oeschger schätzt die aufmunternden Worte des Leiters und seine stimmige Begleitung und Improvisationen auf der Handorgel. Sie ist gespannt und freut sich auf das Konzert, an dem der Organist Wolfgang Sieber die Lieder mit seiner hohen Musikalität und Spielfreude begleiten und bereichern wird. Sie hofft, dass zahlreiche Zuhörende dieses Erlebnis mit ihr und dem Chor teilen werden (siehe Flyer).

27. Oktober 2024 – monika.fischer@luzern60plus.ch