Maria Schaller:
Aus dem Leben einer Pionier-Ärztin
Von Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Nur noch die Putzfrau spricht sie mit Frau Doktor an. Seit sie vor 25 Jahren ihre Arztpraxis an einen Nachfolger weitergegeben hat, ist sie wieder Frau Schaller. Im Januar war sie 91, jetzt sitzt sie in einer bunten Bluse und dunklen Jeans am ovalen Holztisch in ihrer stilvollen Wohnung im Wesemlinquartier. Auf dem Tisch liegt die NZZ, tägliche Lektüre der ersten Luzerner Internistin. Es ist der Tag nach dem Super Tuesday. Sie ist entsetzt ob der Vorstellung, dass Donald Trump Präsident der USA werden könnte. Eben erst hat sie sich den Film „Lincoln“ von Steven Spielberg angeschaut, auf dem iPad im Bett, als sie eine Erkältung auskurierte. Das iPad hat sie sich zum 90. Geburtstag gekauft, den ersten Laptop erhielt sie mit 80 geschenkt. Wissbegierde, Amerika, die Medizin, das Geerdet-Sein: Stichworte, die im Gespräch noch weitere Rollen spielen werden.
Das „Flüeli“ im Wesemlin
Doch der Anfang führt uns ins Entlebuch, wo die Wurzeln der späteren Ärztin liegen. Marias Vater war ursprünglich beamteter Wildhüter an der Schrattenfluh, in der Freizeit schrieb er in der Hirsegg, dem elterlichen Bergheimet oberhalb Sörenberg, Gedichte, die Mutter war Lehrerin in Escholzmatt und eine engagierte Befürworterin von Frauenbildung. Kennengelernt hatten sich die beiden auf einer Wallfahrt nach Rom. Nach der Heirat besuchte Vater Josef die Polizeischule in Luzern, Mutter Marie wollte ihr Leben nicht auf dem Bauernhof verbringen.
Nach einer Zwischenstation in Meggen zog die junge Familie mit der siebenjährigen Maria an die Luzerner Obergrundstrasse, 1938 ins eigene Heim im Wesemlin. Der Vater nannte das Haus „Flüeli“. So ist das Entlebuch mit in die Stadt gekommen. Dort wohnt Maria Schaller heute noch.
„Du, du und du gehen ins Gymnasium“, hatte die 6.-Klass-Lehrerin Mayer damals bestimmt. Maria war nicht dabei, aber die Mutter intervenierte energisch und mit Erfolg beim Rektor. Sie konnte fortan ins „Meitschigymi“ gehen, das Lyzeum, also die beiden letzten Jahre vor der Matura, besucht sie an der Kantonsschule. Eigentlich möchte sie Frauenärztin werden, sie studiert Medizin in Fribourg und Basel und doktoriert auch mit einer Dissertation im Gebiet der Gynäkologie. „Dann beschied mir der Doktorvater, dass meine Hände zu klein seien, um als Frauenärztin zu arbeiten.“ Da machte sie kurzerhand eine Facharztausbildung in Tropenmedizin.
Das Lourdes-Wunder
An diesem Punkt beginnen nun die Lehr- und Wanderjahre der jungen Ärztin. Am Anfang war das Fernweh, der Wunsch, wegzukommen vom strengen Elternhaus, in die Welt hinauszugehen, Neues kennen zu lernen. Zum Fernweh kamen auch Zufälle und „das Wunder von Lourdes“, wie Maria Schaller rückblickend eine zufällige Begegnung im französischen Wallfahrtsort bezeichnet. Sie war als Pilgerärztin für die Caritas mitgereist und traf dort eine junge irische Berufskollegin, die in Chicago arbeitete und deren Stelle frei wurde. Maria Schaller ergriff die Gelegenheit, bewarb sich, besorgte sich die Papiere und reiste 1953 mit dem Schiff nach New York und von dort weiter nach Chicago. Die Geschichten der nächsten Jahre zu erzählen würde ein Buch füllen. Maria arbeitet viel, reist viel, feiert Feste, lernt reiten, tanzt Paso Doble, verliebt sich, findet Freunde fürs Leben. Zweieinhalb Jahre lebt und arbeitet sie in Puerto Rico: „Das waren die schönsten Jahre meines Lebens“, sagt sie jetzt. Noch immer blitzt etwas von der damaligen Lebenslust in ihren Augen.
Keine Zeit für eigene Krankheiten
1958 kehrt sie in die Schweiz zurück, arbeitet für die Basler Firma Geigy, macht noch den FMH in Innerer Medizin und dann, 1966, mit 41, eröffnet sie in Luzern an der Alpenstrasse ihre eigene Praxis, die sie bis 1991 führt. Doch ihre „Lebenskrankheit“ liess sie nie los: das Reisefieber. Von der strengen Praxisarbeit erholte sie sich in ihrem Rigi-Apartment, doch immer wieder zog es sie in ferne Länder, bereiste Indien, China und Syrien, die Ukraine und Marokko, Polen und Andalusien, sie besuchte Freunde in aller Welt, meist in Begleitung ihrer besten Freundinnen. „Für Krankheiten hatte ich keine Zeit“, schmunzelt sie. Die heutige Medizin findet sie zu spezialisiert, sie, die immer das Ganzheitliche gesucht und gelebt und die in ihrer Tätigkeit und ihren Patientinnen und Patienten gegenüber immer Mitgefühl gezeigt hat.
Die Lebensgeschichte, die eine Cousine zu ihrem 90. Geburtstag letztes Jahr verfasst hat, ist ein unglaubliches Konzentrat eines beeindruckenden Lebens. „Wichtig sind all die Freundschaften, auch wenn es immer weniger werden“, schaut Maria Schaller zurück. Eine Ehe habe sich nie ergeben, „ich bin in der Arbeit aufgegangen“. Sie ist Patin von zehn Frauen, mit denen sie freundschaftlichen Kontakt pflegt, auch übers Email. Geblieben ist die Wissbegierde, die ungebremste Neugier, die sie auch in Gesprächsgruppen mit ihren Freundinnen und ehemaligen Nationalrätinnen Judith Stamm, Rosmarie Dormann und andern teilt. Zudem besuchte sie bis weit ins hohe Alter Vorlesungen in Theologie, Judaistik und Philosophie, sie bewundert Hans Küngs „erdgebundene Theologie“. Noch immer spielt sie Klavier, „vor allem die Romantiker mag ich.“ Und auch an Konzerten im KKL ist sie regelmässig anzutreffen.
Gelassenheit mit Robert Walser
Neulich habe sie den Satz gelesen: „Gesundheit ist Selbstvergessenheit.“ Sich engagieren für andere, offen sein für die Welt, christliche Werte leben, zufrieden sein mit dem Erreichten: das ist Maria Schallers Rezept fürs Älterwerden und das Gesundbleiben. Angst vor dem Tod hat sie nicht: „Wenn man ein so reiches Leben führen durfte, sollte auch das Sterben gelingen, da habe ich ein Urvertrauen.“ Mit dieser Gelassenheit geniesst sie weiterhin das Leben in ihrer gepflegten Wohnung im „Flüeli“. „Gelassenheit“ heisst auch Maria Schallers Lieblingsgedicht. Es stammt von Robert Walser und schliesst mit den Worten: „Zeit ist Zeit, sie mag entschlafen: Immer findet sie als braven Menschen mich am alten Ort.“
Nach anderthalb Stunden verlasse ich „den alten Ort“, beeindruckt von der Vitalität und Gelassenheit einer weltoffenen, grosszügigen und doch bescheidenen Persönlichkeit, der es sichtlich selber Freude bereitet hat, auf ihr erfülltes Leben zurückzublicken.
3. März 2016