"Ich habe keine Berührungsängste"
Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)
Start für die etwas andere Stadtführung ist im Lindenpark. Es ist regnerisch und kalt. Gudrun verzieht keine Miene, das Wetter kann ihr nichts antun. Sie sitzt in ihrer Mini-Harley, wie sie ihren Elektrorollstuhl nennt, und ist gut eingepackt. Zusammen mit Roy, einem Drogenabhängigen, wird sie unsere Gruppe durch den Obergrund führen.
Eine Frau ohne Schnickschnack. 58 Jahre alt, von Gossau, seit 21 Jahren in Luzern. Sie lernt Kindergärtnerin, bildet sich später zur Religionslehrerin aus, übernimmt in der Rodtegg, einer Stiftung für Kinder und Erwachsene mit einer körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigung, die Nachtwache, um tagsüber für ihre zwei Buben sorgen zu können. Sie hat psychische Abstürze, wird mehrmals in die Psychiatrie eingeliefert, leidet seit 2003 zunehmend an der Multiple Sklerose. "Zwischen 45 und 50 war ich mir nicht sicher, ob ich so weiterleben will", sagt sie bei der Begrüssung im Lindenpark.
Eine unabhängige Frau
Und nun los! Gudrun fährt in ihrer Harley voraus, quert die Obergrundstrasse und macht einen ersten Zwischenhalt beim SAH Zentralschweiz, dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk, an der Bundesstrasse. Bevor sie das SAH vorstellt, macht sie ihrem Ärger Luft über die nach wie vor bestehenden Trottoirbords. "Solche Hindernisse stören mich", sagt sie, "denn sie zwingen mich manchmal zu gefährlichen Umwegen." Sie habe dem Zuständigen beim städtischen Tiefbauamt für einen Tag ihre Harley angeboten, damit er einen Tag lang selber erfahren könne, wie hinderlich solche Schikanen sind und ins Abseits führen - auch Menschen mit Kinderwagen oder Rollatoren. Der Mann vom Tiefbauamt habe auf das Angebot nicht reagiert, dabei sei es doch eine Ehre, mit ihrer Harley unterwegs zu sein, sagt sie mit ironischen Unterton.
Gudrun ist, trotz allem, keine verbitterte Frau. Herzlich, offen, kommunikativ: So stellt sie sich auf der Webseite vor - und das passt. "Ich habe mein Leben jetzt gut im Griff, und ich lebe gerne." Sie wohnt selbständig in einer Wohnung in Littau, auch dank den Psychopharmaka, die sie jeden Tag nehmen muss, und der Maltherapie. Sie ist trotz den alltäglichen Einschränkungen tatkräftig und praktisch veranlagt. Glühbirnen an der Decke gibt es in ihrer Wohnung nicht, denn sie kann auf keinen Stuhl steigen. Zweimal im Monat kommt die Spitex, um im Haushalt auszuhelfen. Von einem Heimeintritt will sie gar nichts wissen. "Ich will das Leben einer unabhängigen Frau führen."
Hemmschwellen abbauen
Auf dem Trottoir an der Bundesstrasse stellt Gudrun das SAH vor, berichtet von den 20 000 arbeitslosen Personen, die pro Jahr beim Arbeiterhilfswerk Unterstützung finden. "Auch mein älterer Sohn war arbeitslos und hat dank den Integrationsmassnahmen schnell wieder einen Job gefunden." Wir ziehen weiter durchs Hirschmattquartier. Abseits Luzern - die andere Stadtführung wurde vor einem Jahr lanciert - mit grossem Erfolg. Statt der erwarteten 1000 Personen haben sich bereits über 3000 Personen für eine der Stadttouren angemeldet, wie Hanno Wyss berichtet. Der pensionierte Regisseur und Kulturvermittler, der die heutige Tour begleitet, coacht die Guides von Abseits Luzern. Es sind ehemalige Obdachlose, Armutsbetroffene, Drogensüchtige und Stadtoriginale. Der Verein, präsidiert von Marco Müller, will mit diesen Touren Vorurteile abbauen und sozial benachteiligten Menschen eine neue Perspektive anbieten.
Gudrun hat sich ohne Zögern als Guide angemeldet, als ihr jemand einen Flyer dieses aussergewöhnlichen Projekts in die Hand drückte. "Ich kann damit Hemmschwellen gegenüber Menschen mit Behinderungen abbauen", sagt sie, "auch wir sind Teil unserer Gesellschaft." Nein, es habe keinen Mut gebraucht, sich in der Öffentlichkeit zu exponieren und von den eigenen Schwierigkeiten zu erzählen, sagt sie. "Ich habe keine Berührungsängste." Geholfen habe die eingehende Schulung der Guides, insbesondere mit einer Sozial- und Theaterpädagogin. "Wir wissen, wie auftreten, können unsere persönlichen Erfahrungen einbringen", sagt Gudrun. Sie mache sich nützlich, lerne neue Menschen kennen. Diese Stadtführungen, so Gudrun, "sind für mich Seelenbalsam."
Immer wieder Abschied nehmen
Zwischenhalt an der Murbacherstrasse. Gudrun stellt die Kirchliche Gassenarbeit vor und erklärt, was der Schalter 20 für Drogenabhängige tun kann. Gudrun selber geht jeden Sonntagmittag zum Mittagessen in die Gassenküche und jasst danach in ihrem Freundeskreis, immer den Coiffeur, wie sie beifügt. Die Stadtführung dauert gut zwei Stunden, von Langeweile keine Spur. Doch langsam kriecht die Kälte die Beine hoch. Gudrun lässt sich nichts anmerken. Es geht weiter Richtung Sozialzentrum Rex der Stadt Luzern, dann zur Zwitscherbar, einem niederschwelligen Treffpunkt der Katholischen und der Reformierten Kirche, die sich vorübergehend am Franziskanerplatz befindet. Nun steigt Gudrun erstmals von ihrer Harley und geht die paar Schritte zu Fuss in den Gemeinschaftsraum, wo der Rundgang seinen Abschluss findet.
Einige Tage später treffen wir uns nochmals zu einem Gespräch. Gudrun erzählt von ihrer Familie. Von den zwölf Kindern; vom Vater, der mit 54 Jahren tödlich verunglückte (auf dem Velo wurde er von einem Lastwagen angefahren); berichtet in wenigen Worten von ihrer Tochter, die im Alter von zwei Monaten den plötzlichen Kindstod erlitt; von ihrem Lebenspartner, der 2014, nach dem TV-Fussballspiel Atlectio gegen Real Madrid auf dem Balkon unglücklich stolperte und über das zu niedrige Geländer vom sieben Stock in die Tiefe stürzte. "Ich musste immer wieder Abschied nehmen", sagt Gudrun. Das wird für sie, erkrankt an der Multiple Sklerose, auch für das fortschreitende Alter gelten. Aber das kann sie nicht wirklich schrecken. "Ich lebe jetzt, was in einem Jahr ist, kann ich nicht wissen."
11. Dezember 2017